März 3, 2017 – 5 Adar 5777
Tanz zwischen den Welten

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Eine Deutsch-Syrerin über ihre ersten Begegnungen mit jüdischer Kultur  

Von Laila Mirzo

Was macht uns zu dem, was wir sind? Ist es unser Name, die Religion oder unsere Kultur? Bin ich der Mensch, den meine Mutter in mir sieht, oder bin ich das, was die Gesellschaft aus mir macht? Letztendlich sind alle Perspektiven nur einzelne Teile eines großen Puzzles. Die Frage nach dem „Ich“ wird uns wohl noch in der Todesstunde umtreiben. Die Antwort tragen wir aber tief in uns – es ist nur die Frage, ob wir sie hören wollen.

Als Journalistin und Vortragende über islamkritische Themen habe ich eine gewisse öffentliche Präsenz. Dass meine Arbeit polarisiert, ist mir bewusst. Dass ich für meine Meinung in der Kritik stehen werde, war mir ebenfalls klar, auch, dass meine Person von verschiedenen Seiten für ihre Zwecke instrumentalisiert werden würde. Doch habe ich für mich entschieden, mit jedem zu reden. Als überzeugte Demokratin bin ich für einen breiten Diskurs und dazu gehört eben „Links“ und „Rechts“. Das macht eine gesunde, pluralistische Gesellschaft aus. Letztendlich habe ich das zu verantworten, was ich sage und schreibe.

In diesen Tagen mache ich allerdings eine neue Erfahrung. Ich werde für meine Kritik an der juden- und demokratiefeindlichen Ideologie des Islam als „Rassistin“ und als „Nazi“ beschimpft. Auf der einen Seite ist dieser Vorwurf für mich derart absurd, denn ich habe mich stets genau gegen diese menschenverachtenden Ideologien eingesetzt. Auf der anderen Seite tut es dann doch weh. Nicht weil etwas an dran ist, an den Vorwürfen, sondern weil ich selbst Rassismus in seiner hässlichsten Art erfahren habe: Nämlich in der eigenen Familie.

Für einen Teil meiner deutschen Familie war ich nur „das Kind vom Ausländer“. Der Hass gegen das Fremde, gegen das, was nicht dazu gehört, manifestierte sich auch in körperlicher Gewalt gegen mich – auch das ist ein Teil von mir. Bin ich nun Opfer oder Täter? Oder gar beides?

Das Leben hat viele Kapitel, manchmal ist es eine Komödie, manchmal ist es einfach nur zum Weinen. Das erste Kapitel unseres Lebens ist die Kindheit. Meine Kindheit habe ich in Syrien verbracht. In Damaskus geboren, wuchs ich als Tochter einer deutschen Mutter und eines syrisch-kurdischen Vaters auf der syrischen Seite des Golan auf.

Am Fuße des Hermon-Gebirges ging ich mit Beduinenkindern in die Schule. Den 4 Kilometer langen Schulweg gingen wir zu Fuß. An manchen Tagen machten wir uns einen Spaß daraus, wilde Esel einzufangen und auf ihnen heimzureiten. Meine Kindheit war ein Tanz zwischen zwei Welten. Einmal die Woche hatte ich Deutschunterricht im Goethe-Institut in Damaskus, die Sommerferien verbrachten wir bei den Großeltern in Bayern. Im Großen und Ganzen hatte ich eine sehr schöne Kindheit.

Das Land, auf dem wir lebten, hatten wir von meinem Großvater geerbt, einem Richter und ehemaligen Großgrundbesitzer. Die Familie gehörte bis zur Machtübernahme der Baath-Partei zum feudalen Geld-Adel. Ganze Landstriche samt den Menschen, die dort lebten, gehörten damals meiner Familie. Sie verkauften auch viel Land an jüdische Emigranten in Palästina. Natürlich haben die Bauern damit ihre Existenz verloren, aber es war ein Geschäft wie jedes andere auch. Sie wurden nicht von den Juden vertrieben, das Land wurde von der Generation meiner Großeltern unter ihren Füßen wegverkauft. Ja, es brannten auch Dörfer, doch Unrecht geschah auf beiden Seiten.

Das Verhältnis zwischen Syrien und Israel ist traditionell zerrüttet. Allein die Staatsgründung Israels ist und bleibt eine offene Wunde auf der arabischen Seele. Die Niederlagen im Sechstage- und im Jom-Kippur-Krieg wurden aber von arabischer Seite stets schöngeredet und im Geschichtsunterricht lernten wir, dass Israel jeden Krieg verloren hatte. In unserem Erdkundebuch existierte der Staat Israel nicht.

In meinem Elternhaus herrschte ein liberales und weltoffenes Klima. Mein Vater studierte Philosophie in Beirut und wohnte während seiner Studienzeit bei einer jüdischen Familie. Als Schabbes-Goi kochte er am Sabbat Tee, öffnete die Tür oder ging ans Telefon.
Obwohl zuhause gegen das Assad-Regime geredet wurde und meine Eltern mir ein tolerantes Weltbild vermitteln wollten, war doch die Propaganda und der Druck von außen zu stark. Die Übermacht des Präsidenten Assad und der Baath-Partei war allgegenwärtig. Das Portrait Assads hing in jedem Klassenzimmer, seine kontrollierenden Augen starrten uns vom Umschlag unserer Schulhefte an. Er war „unser Vater“ und wir Kinder zweifelten keine Sekunde daran.

Als 1988 Ben Johnson bei den Olympischen Spielen den Weltrekord im 100-Meter-Sprint brach, sprang ich auf und sagte begeistert zu meiner Freundin: „Das ist der schnellste Mann der Welt!“. Das Nachbarmädchen sah mich aber nur verdutzt an und fragte zweifelnd: „Schneller als Hafiz Assad?“

Gleichzeitig war Israel unser Feind. In der Schule, im Fernsehen und im Radio, überall wurde Israel als Aggressor dargestellt. Im Fernsehen liefen zwischen den Kindersendungen Propagandavideos, in denen gezeigt wurde, wie israelische Soldaten mit Maschinengewehr auf Kinder schossen und dabei hämisch lachten. Diese Gehirnwäsche verfehlte ihre Wirkung nicht. Auch ich hatte Angst.
Das Feindbild des mordenden Juden spukte in vielen Köpfen. Einmal wollte meine Mutter mit mir in Damaskus ins Judenviertel, um Wolle zu kaufen. Erst der dritte Taxifahrer erklärte sich bereit, uns in den jüdischen Teil von Damaskus zu fahren, die anderen hatten kopfschüttelnd abgelehnt. Ich saß hinten im Auto und schleckte an einem Lolli, als der Taxifahrer meine Mutter warnte, gut Acht auf mich zu geben, weil die Juden Kinderblut trinken würden. Vor Schreck warf ich den Lolli aus dem Fenster, damit mein Blut nicht auch noch süß schmecken würde.

Als meine Mutter und ich 1989 zurück nach Deutschland kamen, hatte ich das israelfeindliche Weltbild im Gepäck. Es äußerte sich im Musikunterricht als die Lehrerin mit uns das Lied „Hava Nagila“ einstudieren wollte. Sie erzählte uns, dass dies ein jüdisches Volkslied sei und wir auch dazu tanzen würden. Da gefror mir fast das Blut in den Adern. Zuhause erzählte ich mit Entsetzen, dass wir in der Schule zum Lied des „Feindes“ tanzen mussten.

Nach diesem Erlebnis bekam ich das Buch „Mein Jerusalem – Dein El Kuds“ geschenkt, indem die Freundschaft zwischen einem israelischen und einem palästinensischen Jungen erzählt wurde. Wir fingen an, die syrische Propaganda aufzuarbeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Juden oder Israelis keine Menschen für mich, es waren seelenlose Soldaten, die Kinder töteten. Zu „Hava Nagila“ habe ich seitdem ein besonderes Verhältnis. Es erinnert mich immer daran, wie gefährlich es ist, Menschen zu „entmenschlichen“. Zu guter Letzt habe ich dazu gesungen und getanzt, eine Freundin hat es sogar bei meiner Hochzeit für mich gesungen.

Als erwachsene Frau stelle ich mir noch heute die Frage, welcher Mensch ich wohl geworden wäre, wenn wir in Syrien geblieben wären. Ein gefügiger Mitläufer oder aber systemkritisch und im Gefängnis? Diese Frage kann ich mir selbst nicht mit letzter Sicherheit beantworten, und das beschämt mich.

Zur Autorin:
Laila Katharina Mirzo wurde 1978 in Damaskus geboren. 1989 aus politischen Gründen mit der Mutter zurück nach Deutschland gekommen, lebt sie seit 2002 in Österreich, ist verheiratet und Mutter zweier Kinder.
Sie arbeitet als Journalistin, Referentin und Trainerin für interkulturelle Kompetenz.

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