Juli 2, 2014 – 4 Tammuz 5774
ISIS-Vormarsch und viele Fragezeichen

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Staatenstabilität und Friedensgespräche sind in Nahost derzeit problematisch – eine Analyse 

Mit jedem Tag scheint der Nahe Osten mehr aus den Fugen zu geraten, die Negativ-Meldun- gen überschlagen sich. Momentan beherrschen die islamistischen Terrortruppen von ISIS die Schlagzeilen. Die Abkürzung «ISIS» geht auf die englische Übersetzung aus dem Arabischen zurück: Islamic State in Iraq and Syria. Der entsprechende arabische Organisationsname enthält als letztes Wort «esch-Scham», mit der ursprünglichen Bedeutung «links» und «Norden». Wenn man vom früheren Midian, dem heutigen Nord-Hedschas, nach Osten blickt, liegt links «esch-Scham» (und rechts, weit im Süden, der Yemen). Die Bezeichnung «esch-Scham» war vor dem Ersten Weltkrieg in osmanischer Zeit als Regionalname, aber auch als Name für Damaskus, verbreitet. Der Regionalname umfasste damals das heutige Syrien, Teile des heutigen Irak, die heutigen Staaten Libanon, Israel, Jordanien, die heutigen palästinensischen Autonomiegebiete und Teile im Norden des heutigen saudi-arabischen Staa- tes. «Großsyrien» könnte eine einigermaßen zutreffende Übersetzung ins Deutsche sein.

Es ist kein Zufall, dass sich die ISIS-Selbstbe- zeichnung in einem wesentlichen Bestandteil nicht auf die aktuellen, nach dem Ersten Welt- krieg von den europäischen Teilungsmächten gezogenen Staatengrenzen bezieht. Das «Un- glück» für die Sunna-Minderheit im Irak – deren Interessen die islamistische Terrororga- nisation ISIS in al-Qaida-Nachfolge vertreten will – begann nach der anzunehmenden ISIS- Sicht im Rückblick mit der Bildung des iraki- schen Staates durch die britische Kolonial- und Mandatsmacht. Die früher, in der osmanischen Zeit übliche Territorialbezeichnung «Irak» bezog sich eher auf den Süden des heutigen irakischen Staates. Dort lebte seit langem eine überwiegend schiitische Bevölkerung. Anders als dies im französisch-britischen Sykes-Picot- Abkommen von 1917 zur Aufteilung der osma- nischen Territorien zunächst vorgesehen war, konnten die Briten das eigene Gebiet unter Einschluss der früheren osmanischen Provinz Mossul bis zur heutigen türkischen Grenze ausdehnen. Das Mossul-Gebiet verfügte ur- sprünglich über eine kurdische, sunnitische Mehrheit. Es wurde von den Briten in den von ihnen konzipierten neuen irakischen Staat ein- gegliedert.

Schiiten, Sunniten, Kurden
In diesem neuen Irak gab es einen von den Briten nach einer Volksabstimmung eingesetzten sunnitischen Monarchen, König Faisal, des- sen haschemitische Familie von den wahha- bitischen Saudi-Heeren aus Mekka vertrieben worden war. Faisal hatte mit Lawrence gegen die Türken gekämpft. Heute stellen im Irak die Schiiten ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung, den Rest neben kleineren christlichen und an- deren Minderheiten, z. B. den überwiegend kurdischsprachigen Jesiden, die Sunniten. Sieht man von den durch die europäischen Mächte gezogenen Territorialgrenzen einmal ab, gibt es von Syrien, Jordanien über Saudi-Arabien bis zu den sunnitischen arabischsprachigen Gebieten im Irak ein zusammenhängendes Sunna-Territorium. Die arabischen Sunniten im Irak sind also erst durch die europäische Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg in eine Minder- heitenlage geraten. Die sunnitisch-arabische Vorherrschaft im Irak wurde andererseits erst durch den Irakkrieg von 2003 beendet.

Wie wird sich die Lage im Irak und Syrien entwickeln? Es ist kaum vorstellbar, dass die ISIS-Milizen die irakische Hauptstadt Bagdad erobern können. In den ISIS-Reihen befinden sich offenbar gut motivierte auslän- dische Kämpfer, darunter europäische Islam- Konvertiten, auch aus Deutschland. Das wirft Fragen zum Verhalten der sich immer weiter von Demokratie und Pluralismus wegbewegenden, Sunna-orientierten Erdogan-Türkei auf. Die europäischen Dschihadisten gelangen häufig über die Türkei zu den islamistischen Kämpfern in Syrien und im Irak. Der Rück- weg führt oft ebenso über die Türkei. Aus kurdischen Kreisen in Syrien wird immer wieder der Vorwurf erhoben, die ISIS-Einheiten würden aus der Türkei mit Waffenlieferungen unterstützt, was die türkische Regierung de- mentiert. Im Nachbarland Syrien, das über eine klare sunnitische Bevölkerungsmehrheit verfügt, beherrscht ISIS einen größeren Teil der östlichen, an den Irak angrenzenden Lan- desregionen. Die Regierung Syriens, die seit der militärischen Machtergreifung (unter der Baath-Flagge) in den 1960er Jahren von der Minderheit der Alawiten dominiert wird, steht mit der Islamischen Republik Iran, mit der von dieser geführten Terrororganisation Hisbollah und in gewissem Umfang auch mit Russland im Bündnis. Sie bekämpft ISIS, aber auch andere syrische Widerstandsgruppen. Das schiitische Mullah-Regime im Iran bildet das Bindeglied zum Irak. Es unterstützt die von Maliki geführ- te, schiitisch ausgerichtete Bagdader Regie- rung im Kampf gegen ISIS. In Syrien stehen die ethnisch-religiösen Minderheiten eher an der Seite von Assads Regierung in Damaskus. Die Führung der kurdischen Gebiete in Syrien und ihrer Militäreinheiten tendiert in dieser Hin- sicht mehr zu einer neutralen Position.

Kurdistans Sonderrolle
Demokratischen Verhältnissen kommen im Irak und in Syrien allein die irakischen Gebiete der kurdischen Autonomieregierung unter Prä- sident Masud Barzani nahe. Hierhin flüchten irakische Christen, die im Übrigen zu großen Teilen den Irak verlassen haben, und neuer- dings auch sunnitische arabischsprachige Ein- wohner Mossuls, die sich der ISIS-Herrschaft entziehen wollen. Die kurdische Autonomie- regierung hat auf die durch die ISIS-Expansion geschaffene Lage reagiert. Sie hat, auch um den ISIS-Vormarsch zu stoppen, große, zwischen der schiitischen Zentralregierung und ihr um- strittene Gebiete, darunter auch Ölfördergebie- te, um die mehrheitlich kurdische Stadt Kirkuk militärisch besetzt und ihrer Administration eingegliedert. Für die Ambivalenz der Ver- hältnisse spricht die relativ neue Kooperation zwischen der Türkei und der kurdischen Au- tonomieregierung. Diese Kooperation hat zum Bau einer Pipeline aus Irakisch-Kurdistan in die Türkei geführt, die kurdisches Öl zu einem türkischen Mittelmeerhafen weiterleitet. Auf diese Weise wird ohne Erlaubnis der irakischen Zentralregierung Öl aus Kurdistan exportiert. Gute Beziehungen hat die kurdische Autono- mieregierung unter Masud Barzani offensichtlich zu Israel.

Von Klaus Faber

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