Herr Zissels, noch vor einem Jahr schien die jüdische Gemeinschaft in den postsowjeti- schen Ländern überall ähnlich zu sein, mit gemeinsamem geschichtlichen Hintergrund und gemeinsamer Mentalität. Doch plötzlich hat die Auseinandersetzung zwischen Russ- land und der Ukraine diese Einheit gespalten. Kam das für Sie unerwartet?
Überhaupt nicht. Ich betrachte das nicht als Spaltung, sondern als eine weitere, ob- wohl sehr radikale Diskussion, als Ergebnis eines langen und natürlichen Ausdifferenzie- rungsprozesses. Vor 23 Jahren, als die Sowje- tunion zerbrach, waren wir alle sowjetische Juden. Unsere gemeinsamen Nenner waren die Erfahrung mit staatlichem Antisemitis- mus und Minimalkenntnisse vom Judentum. Danach sind die Juden der Ukraine – genau wie jene in anderen GUS-Staaten – einen langen Weg der Veränderung gegangen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie sich im Januar 1991 – es gab noch die UdSSR – Vertreter jüdischer Gemeinden aus mehreren Sowjetrepubliken für eine zentralistische Dachorganisation aussprachen. Aber die «Ukrainer» und «Balten» bestan- den darauf, dass es unabhängige jüdische Strukturen in jeder Republik geben sollte, die ihre Tätigkeit miteinander koordinie- ren können. Schon damals haben wir unter- schiedliche Vorstellungen gehabt.
Das ukrainische Volk entscheidet derzeit über seine Zukunft. Die getroffenen Entschei- dungen sind nicht immer konsequent, aber es ist ohne Zweifel ein europäisches Modell, das immer mehr Anhänger findet. Es gibt aber durchaus auch gegensätzliche Entwicklun- gen: ein Teil des Landes orientiert sich nach Westen, ein anderer dagegen nach Osten. Auch die jüdische Gemeinschaft ist nicht frei von solchen Gegensätzen. Die Tatsache, dass postsowjetische Länder unterschiedliche ge- sellschaftliche Wege eingeschlagen haben, führt dazu, dass auch die Juden dieser Län- der ihre eigenen «Identifikationsspuren» bekamen. Es war meiner Meinung nach aber absehbar: wenn es irgendwann zum Konflikt zwischen postsowjetischen Ländern kom- men sollte, dann wird es auch die jüdischen Gemeinschaften treffen.
Aber man sagt, alle Juden seien füreinan- der verantwortlich. Kann man die Politik nicht zurückstellen, wenn es um das Wohl und die Sicherheit der Gemeinden geht?
Man kann und soll es auch tun, bis es zum Widerspruch mit den nationalen Interessen des Landes kommt. Seit es länderübergrei- fend jüdische Communities gibt, haben wir es so gehandhabt, dass die internationalen Gremien sich nie ohne Zustimmung in die inneren Angelegenheiten einer Länderge- meinde einmischen. So war es bei den Kon- flikten zwischen Azerbaidschan und Arme- nien, zwischen Russland und Georgien. Und ich hoffe, es bleibt auch jetzt so.
Wenn es um die jüdische Gemeinde geht, helfen wir den Juden unabhängig von ihren politischen Überzeugungen. Ich finde das selbstverständlich. Nachdem kürzlich in Mariupol während eines Armeeinsatzes ein prorussisch-separatistisch agierender Jude gefallen ist, habe ich die Gemeinde ange- rufen und Hilfe für die Familie angeboten. Allerdings habe ich eine harsche Absage gekriegt: Die Gemeinde wollte keine Hilfe von «Handlangern der Kiewer Junta». Die
jüdische Gemeinschaft in der Ukraine ist im Moment geteilt, genauso wie das Land geteilt ist. Aber wir haben bereits nach der Annexi- on der Krim zu Pessach dorthin zwei Tonnen mit Matzen geschickt. Und keiner hat gesagt: «Was kümmern uns diese Separatisten?» Genau so sind wir bereit, Flüchtlingen aus den Kampfgebieten zu helfen, unabhängig davon, welche Richtung – Kiew, Krim oder Israel – sie für sich wählen. Das ist keine ideo- logische Frage.
Eine vernünftige Einstellung. Aber warum kritisieren Sie dann die neutrale Position im russisch-ukrainischen Konflikt, den die in- ternationalen jüdischen Organisationen be- vorzugen? Von dort kommen recht moderate Töne, wohl um die jüdischen Gemeinden in Russland nicht zu gefährden.
Das ist recht einfach zu beantworten: Weil ich diese «doppelte Buchführung» nicht mag. Juden existieren in dieser Welt, um den Völkern Frieden und Weisheit zu bringen. Und wenn sie nichts dafür tun, um Krieg zu stoppen, dann verfehlen sie ihre eigene Bestimmung. Der World Jewish Congress hat schon mehrfach Aggressoren – auch potenti- elle – scharf verurteilt. Als der WJC scharfe Resolutionen zur iranischen oder türkischen Politik verabschiedete, hat man da vielleicht auf die hiesigen jüdischen Gemeinden Rück- sicht genommen? Der WJC-Resolution zur Ukraine fehlt dagegen einfach das Rückgrat. Wenn du das Böse nicht verurteilst, dann unterstützt du es indirekt. Sicher, es ist keine Haltung der WJC-Repräsentanten zuguns- ten Russlands. Es ist nichts Persönliches, eher «business as usual». Ich selbst habe als stellvertretender WJC-Vorsitzender durch- aus die Möglichkeit, meine Position auch öffentlich zu machen. Allerdings befürchtet man, sie wird dann als generelle Position des WJC empfunden, was sie aber nicht ist. Diese Befürchtungen haben einen sehr einfachen Hintergrund: Einige WJC-Leader verdienen Geld in Russland und möchten sich ihre Ge- schäfte nicht verderben lassen. Aber auch die, die keine finanziellen Interessen in Russland haben, möchten Russland nicht reizen. Die Ukraine dagegen stellt für sie keine wirkliche Gefahr dar.
Das Gespräch führte Michael GOLD
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