Januar 6, 2017 – 8 Tevet 5777
Wer denkt noch an Marinus Schöberl?

image

Antisemitismus-Opfer werden ohne Jude zu sein.  

Von Monika Winter

Potzlow ist ein Ortsteil der Gemeinde Oberuckersee mit rund 600 Einwohnern und liegt im Landkreis Uckermark, etwa 10 km von Prenzlau entfernt. Ein Dorf wie viele andere auch, bestehend aus ein paar Häusern, einem Supermarkt, Kirche, Feuerwehr und Sportvereinen. Wahrscheinlich hätten die wenigsten Menschen je von diesem Ort erfahren, wäre es nicht zu dem brutalen, bestialischen Mord an den damals 16-jährigen Marinus Schöberl gekommen.

In der Nacht zum 13. Juli 2002 wurde Marinus von drei jungen Männern stundenlang gequält. Täter waren der damals 23 Jahre alte Marco, der 17 Jahre alte Marcel und der ebenfalls 17 Jahre alte Sebastian. Zuerst beschimpften sie Marinus als „Juden“, schleppten ihn in zwei Wohnungen, haben ihn grausam gequält, geschlagen und verhöhnt. Obwohl es drei Erwachsene als Zeugen gab, leisteten diese keine Hilfe. Diese Erwachsenen bekamen mit, wie die Tat eskalierte. Marinus sollte sagen, dass er Jude sei. Als es zu den ersten Schlägen ins Gesicht kam, erbrach Marinus sich auf dem Tisch, blutete und stürzte zu Boden.

Die Erwachsenen mussten gehört haben, dass Marinus vor Schmerzen schrie, sie mussten die andauernden Rufe „Sag, dass du Jude bist! Ein Judas, ein Jude, ein Asi“ gehört haben.
Gegen eine Frau, die das alles mit ansah, wurde wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Sie soll Marinus bedrängt haben: „Nu sag schon, dass du Jude bist, dann hören die auf.“ Aber sie hörten nicht auf und die Frau wollte dann nur noch über ihren Anwalt sprechen.
Der 16-jährige Marinus hatte seine Haare blond gefärbt. Wegen eines Sprachfehlers stotterte er manchmal. Zudem kleidete er sich wie Jugendliche aus der Hip-Hop-Szene. Das machte ihn verdächtig. Für die Täter war er ein „Anderer“, ein „Minderwertiger“. Wer aber „anders“ ist, musste in ihrer „Logik“ Jude sein. So war es eingebrannt in den Köpfen der Täter. Der Bruder des 23 Jahre alten Marco sagte später aus: „Mein Bruder Marco fing dann an, den Marinus zu beschimpfen. Er fragte und sagte immer wieder, ob er Jude sei. Marinus hat dann irgendwann ja gesagt, dass er ein Jude sei. Ruhe war dann jedoch nicht. Dann ging es richtig los.“

Die drei Täter flößten ihm eine Mischung aus Bier und Schnaps ein, so dass er sich übergeben musste. Sie schlugen ihn. Sebastian F. uriniert auf den bereits am Boden liegenden Jungen. Nach stundenlanger Quälerei verließen die Täter das Grundstück. Marinus Schöberl blieb zurück. Doch sie kehren zurück und schleppen Marinus auf ein ehemaliges LPG-Gelände. Dort setzten sie ihre Misshandlungen fort bis sie ihn mit einer Betonplatte erschlagen. Seinen leblosen Körper werfen sie in eine Güllegrube.

Die Mutter meldet Marinus erst einige Zeit später als vermisst. Vier Monate lang bleibt danach unklar, was mit dem Jugendlichen passiert ist. Im November 2002 wird die Leiche in der Güllegrube gefunden. Zu diesem Zeitpunkt sitzt Marco S., ein bekennender Neonazi, bereits im Gefängnis, weil er in Prenzlau vier Wochen nach dem Mord einen afrikanischen Asylbewerber zusammengeschlagen und schwer verletzt hatte.

Die Täter werden verhaftet, das Gericht aber blieb weit hinter der Forderung der Staatsanwaltschaft.

Dieser grausame Mord und seine furchtbaren Begleiterscheinungen brachten das uckermärkische Dorf Potzlow in die nationalen und internationalen Schlagzeilen. In den Medien stand der Mord sinnbildlich für rechtsradikale Gewalt und eine verrohte Gesellschaft in den fünf neuen Bundesländern.

Es folgte Schweigen im Dorf, man wollte mit der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu tun haben. Die Frage jedoch, aus welchem Grunde die drei Täter Marinus zum „Juden“ machen wollten, bevor sie ihn bestialisch ermordeten, wurde in den Medien kaum thematisiert.

Judenhass kann viele Motive erhalten. Das wissen wir aus der Historie des Antisemitismus. Eines der antisemitischen Motive ist es, dass Juden grundsätzlich sichtbar sind, weil sie anders aussehen. Marinus trug blond gefärbte Haare, das reichte aus, um ihn zum „Juden“ zu deklarieren. Haare und Kleidung waren in den Augen der Täter Verkleidung. Darunter konnte nur ein Jude stecken.

Aber Marinus war kein Jude. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass er in diesem Dorf auch niemals einem Juden begegnet ist.

Dass die Täter der rechtsradikalen Szene angehörten, wurde übereinstimmend so berichtet. Und trotzdem haben wir es hier nicht mit einer nur typisch rechtsradikalen Tat zu tun. Dass Freunde des Judentums oder Israelunterstützer auch von radikalen Muslimen als „Juden“ bedroht werden, davon können wir täglich in den sozialen Medien lesen. Auch der internationale Terrorismus unterscheidet nicht. Ein französischer Journalist meinte nach dem Bataclan-Massaker: „Der Terror wendet sich nicht nur gegen Journalisten und Juden, sondern auch gegen ‚normale Franzosen‘.“

Notfalls werden Nichtjuden zu Juden gemacht. Das ist der Punkt – nicht nur in Potzlow.

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke