Von Orit Arfa
„Ich habe einen Studienplatz an der Universität Leipzig bekommen”, ruft Eshchar Gichon, 25, am Anfang des Interviews mit der JÜDISCHEN RUNDSCHAU aufgeregt.
Dass er an der Uni Leipzig, genauer gesagt am Institut für Tiermedizin, studieren wird, ist für ihn von höchster Bedeutung: Denn damit schließt sich der Kreis seiner Familiensaga um ein weiteres Stück.
Die Universität Leipzig ist nämlich auch die Alma Mater seines Urgroßvaters Emanuel Goldberg, der einst einer der bekanntesten Professoren der Stadt war. Ein Pionier auf den Feldern Fotografie, Optik und Informationstechnik und Leiter des Instituts für Fotografie an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe (heute Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig). Doch seine Verdienste wurden nach dem Krieg aus der sächsischen Geschichte ausradiert. In Leipzig und Dresden, wo er als Gründer und Generaldirektor der Zeiss Ikon wirkte und den Kamerahersteller zu einem der führenden weltweit machte, wurde er nach seiner Flucht aus Deutschland zu einem Unbekannten. Hätte er in seinem Heimatland bleiben können, er hätte der „Steve Jobs“ oder der „Bill Gates“ Deutschlands werden können.
„Wir sind mit den Geschichten über seine Arbeit als Direktor von Zeiss Ikon aufgewachsen und damit, dass er im Grunde genommen ein Genie war“, erzählt Gichon der JÜDISCHEN RUNDSCHAU in einem Berliner Café. Gichon ist vor zwei Jahren zum Studieren nach Berlin gekommen, auch dank der deutschen Staatsbürgerschaft, die er durch seine deutsche Abstammung erhalten hat. Aber er hat nicht erwartet, dass er eine Art Renaissance um die Geschichte seines Urgroßvaters erleben würde.
Goldbergs Ideen, Geräte, Entwicklungen und Erfindungen waren kürzlich Gegenstand der Ausstellung „Emanuel Goldberg: Architekt des Wissens“, die im März im Museum Technische Sammlungen Dresden eröffnet wurde; übrigens am Standort des ehemaligen Firmensitzes der Zeiss Ikon. Zu Goldbergs Erfindungen gehören eine „Wissensmaschine“ (eine frühe Suchmaschine und eine Art Vorgänger von Google) und die transportierbare Kamera „Kinoma“ (ein Vorgänger des Pocket-Camcorder). Die Wiederentdeckung von Goldbergs Errungenschaften hängt auch mit der Veröffentlichung der Biografie „Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine: Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik“ des amerikanischen Professors Michael Buckland zusammen.
„Es ist schwierig, zu erklären, wie Goldberg verschwunden ist“, berichtet Buckland, der an der renommierten Berkeley-Universität lehrt, der JÜDISCHEN RUNDSCHAU. „Er war einst international berühmt und schließlich kannte ihn außerhalb von Israel niemand mehr. Ich fand diese Detektivarbeit an seiner Biografie in vielerlei Hinsicht absolut faszinierend: Er hatte ein höchst interessantes und abenteuerliches Leben. Er hat unglaublich schlaue Sachen getan und seine Geschichte ist menschlich unheimlich interessant. Nicht nur war die Historie der Informationswissenschaft ohne seine Erwähnung lückenhaft, es gibt auch eine starke ethische Komponente. Er hat es verdient, dass man sich an ihn erinnert und nicht, dass man ihn vergisst.“ Die Geschichte von Emanuel Goldberg ist die eines „Selfmademan“. Geboren 1881 im Russischen Kaiserreich zwangen ihn die dort sehr eingeschränkten Studienmöglichkeiten für Juden, sein Studium aufzugeben und stattdessen in Leipzig weiter zu studieren und schließlich auch zu lehren. 1917 ging er nach Dresden, um in der Hauptstadt der Kameras Zeiss Ikon zu gründen.
Entführung durch die SA 1933 stürmten bewaffnete SA-Männer die Büros der Zeiss Ikon und entführten Goldberg. Sein Unternehmen konnte zwar seine Freilassung aushandeln, degradierte ihn daraufhin jedoch und entsandte ihn in die Firmenniederlassung in Paris. 1936 wurde er „ausbezahlt“ und man ließ ihn ein „Wettbewerbsverbot“ unterzeichnen. Sein Nachfolger wurde ein Nazi, mit dem Unternehmen Zeiss Ikon ging es danach stetig bergab.
Goldberg lehnte ein Angebot, an der Seite von Albert Einstein in den USA zu arbeiten ab und ging stattdessen 1937 ins damalige Palästina. Dort setzte er seine Forschungs- und Entwicklungskenntnisse im Bereich der Rüstungsindustrie, beispielsweise für Kompasse und Ferngläser, ein – erst, um die britische Armee gegen die Nazis zu unterstützen, später in der Haganah, aus der schließlich die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte hervorgingen. Emanuel Goldberg starb schließlich 1970 in Israel. Er hatte in Israel für seine Mitarbeit an der Gründung von ElOp, einem auf den Bereich Optik fokussierten Teil des Rüstungsunternehmens Elbit, unter anderem den Israel-Preis erhalten.
Es sollte aber noch bis zu den Feierlichkeiten des 250. Jubiläums der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig dauern, bis seine Geschichte in Sachsen wieder aufgerollt wurde. Ein Student war im Rahmen der Vorbereitung zu den Feierlichkeiten, für die in einem Wettbewerb Rechercheprojekte über ehemalige Professoren angefertigt werden sollten, auf Goldberg gestoßen. Dieser Student, René Patzwaldt, kontaktierte kurzerhand die Nachkommen von Emanuel Goldberg in Israel.
„Eines Tages bekam meine Großmutter eine Nachricht bei Facebook“, erinnert sich Gichon, „wir sahen die Nachricht allerdings erst drei Monate später, als mein Cousin das Facebookprofil checkte. Das war der Anfang von allem. Wir luden ihn nach Israel ein, um meine Oma zu interviewen. Sie zeigte ihm auch einige Werkzeuge von Emanuel Goldberg und der Student erstellte sein Projekt, mit dem er schließlich den Wettbewerb gewann.“
Die Hochschule kooperierte auch mit der Technischen Universität Berlin, um die Ausstellung im Museum Technische Sammlungen in Dresden zu realisieren. Wie der Museumsdirektor Roland Schwarz berichtet, unterstütze die Firma Zeiss das Museum für die Ausstellung erstmalig finanziell. Die Ausstellung markiert einen kritischen Wendepunkt für Dresden. Immerhin hatten die Mitarbeiter des Museums noch 1995, als der Goldberg-Biograf Buckland dort recherchierte, noch nie vom Erfinder und Zeiss Ikon-Gründer gehört.
„Hätte er weiter an seinen Projekten hier in Dresden arbeiten können, würden wir Emanuel Goldberg heutzutage wahrscheinlich als Erfinder des Computers bezeichnen“, erklärt Schwarz beim Besuch der Ausstellung, die im letzten September endete. Schwarz ist nicht sicher, ob die Ausstellung noch irgendwo anders zu sehen sein wird. Die israelischen Museen, die er kontaktierte, haben kein großes Interesse daran gezeigt und Goldbergs Kinder (inklusive Gichons Großmutter Chava) sind alle bereits vor der Eröffnung verstorben.
„Glücklicherweise hatte sich die Familie entschlossen, sein Vermächtnis an das Museum zu übergeben“, berichtet Museumsdirektor Schwarz dankbar. Dazu gehört auch die geliebte Drehbank, die Goldberg mit nach Paris genommen hatte und die später in seiner Werkstatt in Tel Aviv stand. Das fünfte Stockwerk des Museums soll nach Goldberg benannt und Informationen über ihn in die Dauerausstellung eingefügt werden.
Vom Fenster in den Ausstellungsräumen aus kann man das Haus sehen, dass Emanuel Goldberg in Dresden entworfen und gebaut hatte, ganz in der Nähe der Straßenbahnlinie. Seinen Urenkel Eshchar Gichon interessiert die Geschichte des Menschen Goldberg, die des Erfolgs und der Tragödie, mehr als seine technischen Errungenschaften. Er besuchte sein ehemaliges Wohnhaus auf Einladung des jetzigen Besitzers und gemeinsam arbeiten sie daran, einen Stolperstein zu installieren, um auch so ein Denkmal für Goldberg zu setzen.
„Wir haben immer gesagt: Wäre er in Deutschland geblieben, wäre er bestimmt weltberühmt geworden“, resümiert Gichon, „er hätte die Firma weiter vorangetrieben und meine Onkel haben immer gesagt, dass er bestimmt auch einen Nobelpreis gewonnen hätte.“
Aus dem Englischen von Katharina Höftmann
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