August 7, 2014 – 11 Av 5774
Paraschot haSchawua

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Von Genuss und Heiligkeit 

09. August 2014 Parascha Waetchanan Deuteronomium 3:23-7:11

Im Wochenabschnitt Waetchanan wird über den letzten Versuch Mosches, G-tt zu überzeugen, ihn in das Land Israel einziehen zu lassen, berichtet. G-tt hat ihm verboten, nochmals danach zu fragen. So darf Mosche nur von Weitem das Land bewundern und muss die Führung des Volkes an Jehoschuah übergeben. Mosche legt drei Zufluchtsstätten für die unabsichtliche Mörder jenseits des Jardens fest. Die Sinai-Erfahrung wird wieder in Erinnerung gerufen, und die zehn Gebote werden wiederholt. Mosche bereitet nun das Volk auf den Einzug in das Land Israel und auf die damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen mit den einheimischen Völkern vor.
Im vierten Kapitel von Deuteronomium, Vers 5, sagt Mosche zum jüdischen Volk: «Seht, ich habe euch Ge- setze und Rechtsvorschriften gelehrt, wie es mein G-tt mir befohlen hat, damit ihr sie in der Mitte des Landes ausübt».

Viele Menschen meinen, dass man sich komplett von der körperlichen Welt absondern müsse, um ein heiliges Leben führen zu können. In verschiedensten Religionen streben die Menschen nach Heiligkeit, in denen sie sich bewusst von Genüssen trennen und sich Entbehrungen auferlegen. So darf man in manchen Religionen als «Heiliger» nicht heiraten, oder generell keinen Alkohol verzehren. Manche legen ein Schweigegelübde ab, anderen praktizieren sehr lange Fastenperioden. So versuchen die Menschen sich von der körperlichen Welt zu distanzieren, um der geistigen Welt näher zu sein.

Dem Judentum ist dieses asketische Denken jedoch sehr fremd. Das Judentum sagt, dass es unsere Aufga- be ist, die Heiligkeit und das Geistige in die körperliche Welt, in der wir leben, zu bringen. Wir dürfen uns nicht von der körperlichen Welt trennen, wir müssen sie heiligen. Aus diesem Grund ist es für jeden Mann ein Gebot, im Judentum zu heiraten. Alle unsere religiösen Zeremonien, wie Hochzeit, Beschneidung, Kiddusch, Hawdala werden mit Wein begleitet, und es ist ein Gebot, Festmahlzeiten zu den Feiertagen und besonderen heiligen Anlässen wie Beschneidung oder Hochzeit, oder selbst bei einem Sium (Beendigung des Lernens eines Talmudtraktates), zu veranstalten. Diese Idee ist auch im obengenannten Vers enthalten, indem Mosche sagt, dass die Gebote in der Mitte des Landes ausgeübt werden sollen. Das heißt, dass diese Gebote zum Teil des alltäglichen Lebens werden sollen und dass das Juden- tum nicht nur eine Religion, sondern auch eine Lebens- weise sein soll.
Tatsächlich ist es so, dass die Gebote im Judentum sich in jedem Bereich des menschlichen Lebens wiederfinden. Nicht nur in einer Synagoge, sonder auch Zuhau- se, auf Arbeit oder draußen auf der Straße. Wir werden überall von unseren Geboten begleitet.

Man könnte hier gleichwohl die Frage stellen, was uns die Tora in Numeri 6: 2–11 und der dazugehörige Talmud-Traktat zum Nasir sagen wollen? Die Tora erklärt, dass ein Nasir sich für dreißig Tage vom Wein und anderen körperlichen Genüssen trennen soll und kann.

Also doch ein typisches Beispiel von Asketismus? Rambam vergleicht diese Situation mit einem Baum. Wenn wir sehen, dass ein Ast in eine falsche Richtung wächst, dann binden wir ihn für eine Weile so, dass er in die entgegengesetzte Richtung geneigt wird. Wenn wir den Ast nach einer Weile wieder losbinden, wird er wieder gerade.

Genauso ist es mit einem Nasir. Wenn ein Mensch sieht, dass er von der körperlichen Welt zu sehr ange- zogen wird, und dass sie anfängt ihn zu beherrschen, soll er sich für eine Weile von ihr trennen, um den Ausgleich in sich zu schaffen. Doch dem Judentum nach ist das kein Idealzustand, und aus diesem Grund muss ein Nasir, nachdem die Zeit seiner Abstinenz abgelaufen ist, ein Sühneopfer bringen. Doch womit hat er denn gesündigt, er wollte doch nur in Heiligkeit leben? Seine Sünde bestand darin, dass er sich von den Genüssen der körperlichen Welt, die uns von G-tt zur Verfügung gestellt wurden, abwendete.

Wir sollen die körperliche Welt genießen, dafür wurde sie uns gegeben. Und um uns zu erheben, brauchen wir es nicht, uns von der körperlichen Welt zu trennen, denn wir haben die Kraft, die materielle Welt zusammen mit uns zu erheben, indem wir sie heiligen. Aus diesem Grund sagt der Talmud aber auch, dass es verboten ist, von der körperlichen Welt zu genießen, ohne einen Segenspruch zu sagen. Denn mit Hilfe des Segenspruches transformieren wir den körperlichen Genuss in eine Heiligung der materiellen Welt.


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Kritik will ausgehalten werden
30. August 2014
Parascha Schoftim Deuteronomium 16:18-21:9

Im Wochenabschnitt Ekew beschreibt Mosche die Belohnung, die das jüdische Volk für das Einhalten der Gebote bekommen wird. Mosche warnt aber das Volk, nachdem sie das Land Israel besiedeln und sich dort einleben, nicht zu vergessen, wer sie aus der Sklaverei in das gelobte Land geführt hat und durch welche Wunder das ganze begleitet wurde. Die Sünde des goldenen Kalbes wird noch ein Mal in Erinnerung gerufen. Dem jüdischen Volk wird zum wiederholten Mal versprochen, dass es die einheimischen Völker besiegen und in das Land Israel einziehen werde. Die Grenzen des Landes Israel werden ebenfalls definiert.

In Kapitel 10, Vers 16 sagt Mosche zum jüdischen Volk: «Und ihr sollt eure Herzen beschneiden, und seid nicht mehr halsstarrig!»
Raw Simcha Sissel aus Kelm sagt, dass der erste Teil dieses Verses uns lehrt, dass wir die Worte der Zurechtweisung und die Menschen, die uns zurechtweisen, lieben sollen. Der zweite Teil des Verses beinhaltet das Verbot, die Worte der Zurechtweisung zu ignorieren.

Eine Person, die viel zu sehr von sich überzeugt ist und nicht an sich arbeiten möchte, wird die anderen, die ihn zurechtweisen, als Feinde ansehen. Doch diese Person wird niemals in der Lage sein sich zu verbessern. Man kann sie mit einem Menschen vergleichen, dem der Arzt empfiehlt eine bestimmte Diät zu machen oder bestimmte Medikamente zu nehmen, und wenn er das nicht tut, wird er mit schlimmen Folgen rechnen müssen. Doch betreffende Mensch sagt: »Nein, es gefällt mir so wie es gerade ist, und

ich habe nicht vor, irgendetwas an meiner Lebensweise zu verändern». Natürlich versteht jeder, dass so ein Mensch sehr kindisch ist und sich lächerlich verhält, denn nur ein Kind präferiert kurzfristigen Gewinn oder Genuss. Um einen längerfristigen Nutzen oder Gewinn einschätzen und erkennen zu können, fehlt Kindern die Einsicht. Aus diesem Grund möchten sie häufig alles sofort haben, denn das Konzept «später» existiert für sie (noch) nicht.

Genauso verhält es sich mit der geistigen Welt. Ein Mensch, der die wohlmeinenden Zurechtweisungen von anderen ignoriert, läuft Gefahr, einen vollkommen falschen Weg einzuschlagen.

Wir sind auf dieser Welt, um uns geistig zu vervollkommnen. Doch wie erfährt man, an welchen Eigenschaften man arbeiten soll? Die tägliche Selbstanalyse ist dafür sehr wichtig. Doch wir sind alle subjektiv denkende Individuen und können uns sehr leicht, insbesondere über uns selbst, irren. Deshalb brauchen wir die Meinung und Rückmeldung von anderen.

Unsere Weisen sagen: Wenn man wissen möchte, was G-tt über einen denkt, muss man darauf hören, was die anderen über einen denken. Doch wenn man wissen möchte, was die anderen über einen denken, muss man seine Frau fragen.

In Pirkej Avot 1:6 können wir lesen, dass Joschua ben Prachja sagt: «Bestimme dir einen Raw (Lehrer), verschaffe dir einen Freund und beurteile alle Menschen zum Gu- ten!» Man braucht einen Raw und einen Freund, weil diese zwei Individuen uns aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten können, und wenn wir was Falsches tun, werden sie uns zurechtweisen. Doch wie passt der letzte Teil der Mischna zu dem ersten? Was hat der Freund oder Lehrer damit zu tun, dass wir die anderen zum Guten beurteilen müssen?

Sehr oft, wenn die anderen uns zurechtweisen, gefällt uns das nicht, und wir bekommen negative Gefühle gegenüber demjenigen, der uns zurechtweist. Doch da unser Lehrer und unser Freund uns am Nahesten stehen, kann es durch- aus passieren, dass sie uns öfter als die anderen zurechtweisen. Das kann dazu führen, dass wir auf diese Menschen «sauer» werden und unsere Beziehung zu ihnen vielleicht sogar abbrechen. Doch Rabbi Joschua sagt, dass wir insbesondere diese Menschen zum Guten beurteilen und uns eingestehen sollen, dass sie uns nicht zurechtweisen, weil sie Böses beabsichtigen, sondern um uns besorgt sind und möchten, dass wir uns verbessern und noch erfolgreicher werden.

Es gibt Menschen, die nur eine Gesellschaft suchen, wo sie ständig gelobt werden. Sie betrachten lobhudelnde Bekannte als ihre Freunde, doch die anderen, die pro- duktive Kritik an ihnen äußern, werden automatisch zu Feinden erklärt. In Wirklichkeit haben diese Menschen nur Angst, sich selbst ihre Fehler einzugestehen. Sie laufen prinzipiell von dort weg, wo ihnen ihre Fehler gezeigt werden.

Wahre Freunde sind aber nicht die, die nur loben, sondern die, die zugleich auch den Mut zu einer gegenseitig produktiven und zielgerichteten Kritik aufbringen.


Belehrung trifft den Einzelnen
23. August 2014
Parascha Re‘eh Deuteronomium 11:26-16:17

In diesem Wochenabschnitt wird dem Volk aufgetragen, das Land Israel von jeglichen Götzen zu befreien. Die Opfergaben dürfen nur im Tempel gebracht werden. Das tierische Blut darf nicht zum Verzehr benutzt werden. Die anderen Speisegesetze und Merkmale für koschere und unkoschere Tiere, Vögel und Meeresbewohner werden aufgelistet. Die Warnung gegen die falschen Propheten wird ausgesprochen. Das Verbot, selbst in der Zeit der Trauer zu verletzen, wird erteilt. Die Gesetze bezüglich eines jüdischen Sklaven werden gelehrt. Das jüdische Volk wird dazu ermutigt, sich gegenseitig aus der finanziellen Not zu helfen, und damit das Gebot der Tzedaka festgelegt. Die Gebote des Schmittajahres, der Abgabe des Zehntels und der Erstlingsfrüchte, werden gelehrt. Die drei Wohlfahrtsfeste und ihre Gesetze werden beschrieben.

Unser Wochenabschnitt beginnt mit den Worten: «Sieh, ich lege vor euch heute den Segen und den Fluch. Den Segen, wenn ihr auf die Gebote des Ewigen, die ich euch heute gebiete, hört, und den Fluch, wenn ihr auf die Gebote des Ewigen nicht höret.»

Der berühmte Kommentator Ibn Ezra kommentiert das erste Wort unseres Wochenabschnittes, Re’eh («Sieh!»). Er sagt, dass das Wort im Singular steht und nicht im Plural, weil Mosche nicht nur zu dem gan- zen versammelten Volk gesprochen hat, sondern auch gleichzeitig zu jedem einzelnen von ihnen.

Mein Rosch Jeschiwa in Israel, Raw Binjomin Moskowitsch, hat immer behauptet, dass die Definition von Mussar (ethische Belehrung, Zurechtweisung) als eine Belehrung empfunden wird, die ein anderer braucht und nicht ich. Denn immer wenn ein Raw in die Menge Worte der Zurechtweisung spricht, kann jeder denken, dass er zu seinem Nachbar spricht und nicht zu ihm selbst.

Genau das war nicht der Fall bei der Generation von Mosche. Jeder hat seine belehrende Worte auf sich selbst bezogen und nicht auf den anderen. Aus diesem Grund steht das Wort Re ́eh («Sieh!»)im Singular, denn die Menschen vernahmen seine Worte, als ob er zu jedem einzelnen gesprochen hat.

Wenn ein Mensch an sich wirklich arbeiten und sich vervollkommnen möchte, wird er alle Worte der Zu- rechtweisung und der Belehrung auf sich selbst beziehen und nicht denken, dass es sich dabei nicht um ihn, sondern grundsätzlich um andere handelt. Ein arroganter und selbstverliebter Mensch ist dagegen nur in der Lage, die Fehler bei den anderen zu suchen, und ist zu feige, sich selbst zu hinterfragen.

In diesem Kontext passt die Geschichte eines Rabbiners, der einen anderen, mit ihm befreundeten Kollegen in einer anderen Stadt besucht. Der Stadtrabbiner hat seinen Gast im Vorfeld darum gebeten, ein paar Worte an seine Gemeinde zu richten. Dem Gastrabbiner ist es allerdings aufgefallen, dass einige in der Gemeinde

seines Freundes sehr leichtfertig mit bestimmten Geboten umgegangen sind. Doch bevor er die Gemeinde adressiert, will er sich zuerst mit seinem Freund, der die Mitglieder besser kennt, beraten, ob er diese Themen ansprechen kann, denn er will niemanden verletzen.

Der Gemeinderabbiner antwortet entspannt: «Bei mir in der Gemeinde kannst du so gut wie jedes Thema ansprechen, es wird sich dadurch niemand verletzt fühlen, denn meine Gemeinde besteht fast nur aus Je- nemitern».

Die Kommentare werden verfasst von Rabbiner Avraham Radbil

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