Von Rebbezin Katia Novominski
Wir Juden zählen gerne. Gewissermaßen sind wir nicht nur ein Volk des Buches bzw. des Lesens und Lernens, sondern auch ein Volk des Zählens. Wir haben einen G`tt, zwei Bundestafeln, drei Vorväter, vier Vormütter. Wir zählen vier Becher, vier Söhne, sieben Tage, zwölf oder dreizehn Monate, 39 verbotene Arbeiten – die Liste ist unendlich. Gerade zählten wir bis 49. 49 Tage zwischen Pessach und dem Tag, der die Welt für immer verändert hat – Schawuot, der Tag, an dem uns die Thora geschenkt worden ist, an dem G´tt einen besonderen Bund mit seinem Volk schließt.
Weshalb, wie und warum – diese Fragen seien den vielen Büchern und Kommentaren überlassen, die es zu diesem Thema gibt. Nur einem Aspekt davon werden wir versuchen auf den Grund zu gehen.
Je älter wir werden und je mehr wir zu tun haben, desto schneller scheint die Zeit vorbeizugehen. Irgendwann mal fliegt sie geradezu. Wir planen unseren Jahresurlaub im Januar, stellen unsere Dienstpläne frühzeitig zusammen und versuchen schon am Anfang des Jahres zu bestimmen, wo und wie wir die Feiertage verbringen werden. Wir leben von Meilenstein zum Meilenstein, von Termin zu Termin oder mindestens (hoffentlich) von Schabbat zu Schabbat. Was dabei oft aus dem Blick gerät, sind die Minuten, Stunden und Tage dazwischen. Im schlimmsten Fall sind es Monate oder gar Jahre!
Handlungen werden zu Automatismen, Gewohnheiten und Charaktereigenschaften – und die werden wiederum zu festen Bestandteilen unseres Lebens, die keiner Veränderung unterliegen – und das in allen Kontexten, sei es in der Kommunikation mit dem Partner, Arbeitsweise oder das automatische Aufsagen von Segen und Gebeten. Wenn man heute in einen Buchladen geht (das soll es noch geben, dass es Menschen gibt, die in echte Buchläden gehen!) oder an einen Zeitungskiosk, so kann man unendlich viele Zeitschriften und Bücher finden, die dieser Tendenz entgegenwirken sollen.
Effizienz oder Entschleunigung?
Entschleunigen, Work-Life-Balance, oder wie diese ganzen Stichworte heißen, sind im Trend. Aber gleichzeitig auch: Optimierung, Effizienz, Planung, Zeitmanagement. Die Welt scheint leicht schizophren zu sein. Was ist denn nun richtig? Worauf sollte man sich konzentrieren? Welchen Ratgeber sollte man kaufen?
Die Antwort liegt auf der Hand – denn wir haben schon einen Ratgeber erworben. Besser noch, nicht erworben, sondern als teures Geschenk erhalten – die Thora gibt uns eine Antwort auf alle Fragen, also auch auf diese! Planung ist wichtig – wir haben einen festen Kalender, nach dem sich unser Leben richtet – wir achten darauf, die Daten (wieder Zahlen!) akkurat einzuhalten, wir zählen sieben Tage und leben von Schabbat zu Schabbat. Wir sollten bestenfalls spätestens am Mittwoch anfangen uns für den Schabbat vorzubereiten, und sofort nach Pessach fangen wir an die besagten 49 Tage der Omer-Zählung zu zählen, um uns auf Schawuot und die jährliche Erneuerung des Bundes mit dem Ewigen vorzubereiten.
So termingesteuert wäre es wohl vernünftig im Buchladen nach einem Effizienzratgeber zu suchen – sollte man meinen. Aber genau hier, an den Tagen vor Schawuot und an Schawuot selbst, spüren wir, dass wir zu früh in das entsprechende Sortiment gegriffen haben. Jeder von den 49 Tagen hat nicht nur die Funktion uns zu sagen, wie weit wir mit der Zählung in freudiger Erwartung bis zum nächsten Feiertag gekommen sind, sondern hat für sich genommen einen eigenen Wert. Jeder Tag gibt uns die Kraft etwas an uns zu verändern, an einer weiteren Charaktereigenschaft zu arbeiten, eine oder mehrere gute Taten zu verrichten, die eigene Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, nach innen.
Das ist die Voraussetzung für das Geschenk der Thora – ich muss mich darauf vorbereiten, ich als Einzelperson. Diese Aufgabe kann mir keiner abnehmen. Von mir hängt alles ab und von keinem sonst. Das klingt nach Verantwortung, aber auch nach Selbstbestimmung, nach der Suche nach dem Gleichgewicht zwischen allen Aspekten meines Lebens.
Sind wir Juden dadurch vielleicht schizophren? Man kann doch nicht beides gleichzeitig haben – Effizienz und Entschleunigung, Planung und Entspannung – schließen sich diese und weitere ähnliche scheinbare Gegensätze nicht gegenseitig aus?
Unsere, jüdische Antwort ist nein! Wir vermögen (wenn wir es möchten und uns darauf einlassen) beides zu vereinen. Es ist durchaus nicht mühelos. Sich ständig zu prüfen, sich zu verändern, an dem Gewohnten zu rütteln, ist schwer. Der Lohn ist aber auch entsprechend groß. Der Preis ist die Thora. Nur vorbereitet und im vollen Bewusstsein können wir diese erhalten – als Individuen und als Volk. Wem es zu abstrakt ist, der kann den Lohn auch im Alltäglichen „abholen“ – Frieden mit sich selbst, bessere Beziehungen mit den Mitmenschen, ein sinnerfülltes Leben. Das alles und vieles mehr können wir haben, wenn wir uns auf das jüdische Rezept verlassen.
So ist es mit dem Zählen und den Zahlen bei uns. Jede Tat zählt, jeder Tag zählt, jeder Einzelne zählt. Wie wir dieses Zählen ausleben, liegt in unserem Ermessen.
In diesem Sinne Chag Shavuot sameach und vergessen Sie beim Ernst des Zählens nicht den Käsekuchen (ausnahmsweise mal ohne Kalorienzählen)!
Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.
Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.