März 9, 2018 – 22 Adar 5778
Herr Gedeon stolpert

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Gerade jene, die die Stolpersteine verächtlich machen, sind die eigentlichen Adressaten dieser Klein-Denkmale  

Von Thilo Schneider

Regine Bamberger wurde 1880 in Braunsbach geboren. Ihr letzter Wohnsitz vor der Deportation war die Platanenallee 5 in Aschaffenburg, von wo sie nach Kraśniczyn deportiert und ermordet wurde.

Inge und Werner Baumann, geboren 1930 und 1926 lebten, liebten und stritten in der Fabrikstraße 4, gleich neben dem Schöntal-Park. Sie wurden am 23.4.1942 nach Kraśniczyn verbracht und dort umgebracht.

Julius Stenger, ein Kaufmann, geboren 1877 und zuletzt wohnhaft in der Schillerstraße 68, wurde wegen des „Hörens von Feindsendern“ von seinen Nachbarn denunziert und brachte sich in Gestapo-Haft am 3. Oktober 1940 um.

Friedel Heymann, geboren 1919, aus der Freundstraße 20, war Wehrmachtsoffizier und wurde kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner wegen „Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung“ am 28.3.1945, drei Tage nach seiner Hochzeit, vor der Gaststätte „Wurstbendel“ von einem „fliegenden Standgericht“ an einem Laternenpfahl gehenkt.

Woher ich das weiß? An sämtlichen Orten liegen sogenannte „Stolpersteine“ im Asphalt. Tagsüber hasten Menschen vorüber oder darüber, nur die wenigsten lassen ihren Blick darauf fallen.

Aber die, die es tun, sehen sie mit etwas Phantasie. Inge und Werner beim Spielen mit ihren Freunden, beim Packen ihrer kleinen Koffer und wie sie mit Regine Bamberger morgens in aller Frühe hinter den Raum an der Sandkirche geführt werden. Dort stehen schon die LKW und ich nehme an, die nicht einmal unfreundlichen LKW-Fahrer und Polizisten halfen ihnen, die LKW zu besteigen. Manchen von ihnen dürfte bang gewesen sein, andere nahmen ihr Schicksal wohl als „unausweichlich“ hin, Inge und Werner waren vielleicht sogar etwas aufgeregt, weil ihnen die Eltern versichert hatten, es gehe „auf so eine Art Landfahrt“. Ein paar redliche Bürger meiner Stadt haben vielleicht den kleinen Treck mit Leuten gesehen, die mit Rucksäcken und Koffern in aller Herrgottsfrühe durch die Innenstadt liefen, und sich wahrscheinlich gedacht, dass „die jetzt irgendwohin in den Osten gebracht werden“ und sich wieder schlafen gelegt. Waren ja Juden, da war das ja klar.

Plötzlich entfalten sich Geschichten der Menschen
Der ein oder andere sieht vielleicht auch Julius Stenger, der aus dem zweiten Stock des Schlosses springt und auf dem Asphalt aufschlägt. Oder er sieht den verwundeten Leutnant Heymann, der sich möglicherweise ja selbst nichts dachte, als seine Nachbarn über Nacht verschwanden. Zumindest, bis ihm in der total zerbombten Stadt vor einer Menschenmenge das Verwundetenabzeichen, die Eisernen Kreuze 1. und 2. Klasse und die Schulterstücke weggerissen wurden. Er durfte sich als Feigling und Verräter beschimpfen lassen, während die amerikanische Artillerie in der Ferne schon zu hören war. Dann haben ihn seine ehemaligen Kameraden publikumswirksam umgebracht.

All das wissen die, die sich mit den Stolpersteinen in ihrer Stadt beschäftigen. Es ist gar nicht einmal so schwer und aufwändig, Geschichte zu recherchieren: sich vor einen Stein stellen, „Stolpersteine in Aschaffenburg“ im Smartphone in Wikipedia eingeben und schon entfalten sich die Geschichten der Menschen, die bis hierher nur dürre Namen auf einem goldenen Pflasterstein waren. Und selbst wer glühender Antisemit ist (ich kenne da aber niemanden persönlich), kann sich über ein paar Links die rein „arischen“ und volksdeutschen Bombentoten aus dem gleichen Gebäude anzeigen lassen und auf die „verdammten Amerikaner und ihre zionistischen Handlanger“ schimpfen, wenn er dumm genug dazu ist.

Ich finde sie gut, die Stolpersteine. Denn sie erinnern mich daran, was durch Gleichgültigkeit, Feigheit, Dummheit und Hass Menschen anderen Menschen antun, wenn die „schweigende Mehrheit“ aus Angst oder Bequemlichkeit nicht den Mund aufmacht oder lediglich die Schultern zuckt. Und wenn ein Staat als solcher komplett versagt, weil es keine Gewaltenteilung mehr gibt.

Hinter den Skiern von General Dietl verstecken?
Ich bin da allerdings auch einer anderen Meinung als der Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon von der „Alternative für Deutschland“, der eigentlich sogar seinen eigenen Kameraden zu „rechts“ ist und ihnen trotzdem wie ein Pickel am Hintern klebt. Herr Gedeon ist nämlich der Ansicht, dass es „angemessenere Arten des Gedenkens“ gibt, und zwar „im Rahmen von Gedenkstätten, von denen wir hier genügend haben“. Ob ihm da wohl, außer Berlin, eine Gedenkstätte einfällt, die er gerne besucht?

Denn Herr Gedeon ist schon etwas entrüstet, dass „die Initiatoren ihren Mitmenschen eine bestimmte Erinnerungskultur aufzwingen und ihnen vorschreiben, wie sie wann wessen zu gedenken hätten“, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Gedeon die ermordeten Juden, gemeuchelten „Volksschädlinge“ und „feigen Deserteure“ am liebsten im Geschichtskeller hinter den Skiern von General Dietl, dem Wintermantel von General Paulus und den orthopädischen Schuhen von Josef Goebbels verstecken will.

Aber vielleicht bin ich da zu dem guten Menschen Wolfgang Gedeon ja auch zu hart, denn immerhin schickt er, ganz gedenkensensibel, seiner erregten Mahnung voraus, dass „schon die Art dieses Gedenkens fragwürdig ist. Trampeln doch täglich hunderte von Menschen über Steine mit Opfernamen, ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, um wen oder um was es hier geht.“
Man soll sich nicht schuldig fühlen. Aber verantwortlich.

Hier in Deutschland nennen wir so ein Feigenblatt-Vorwort „nice try“. Doch: Ich bin mir ziemlich sicher, wer nicht gerade komplett behämmert oder der deutschen Sprache nicht mächtig ist, weiß sehr genau, „um wen und was es hier geht“.

Es geht hier nämlich, unter anderem, um Befindlichkeiten von geistigen Querschlägern, deren Geschichtsempfinden zwischen 1933 und 1945 etwas – nennen wir es freundlich – „lückenhaft“ ist, und die sich bis heute nicht vorstellen können, dass ein Staat seine Bürger industriell in einem Massenmord vernichtet. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Und jetzt kommt es, Obacht, Gedeons dieser Republik (oder, besser: „Achtung!): Man kann durchaus vor einem Stolperstein stehen, ein Eis essen, Geschichte lernen und sich trotzdem nicht schuldig fühlen. Aber verantwortlich. Dafür, dass so eine verdammte Schweinerei nicht noch einmal passiert. Nicht hier und jetzt und da, wo wir freien Bürger dies verhindern können. Und genau dazu, damit es keine Stolpersteine mehr geben muss – genau dazu sind sie da.

Das mag Herrn Gedeon und anderen „Schuldkultgeplagten“ mit zu Recht schlechtem Gewissen nicht schmecken – ist aber persönliches Einzelschicksal. Darauf kann die deutsche Volksgemeinschaft keine Rücksicht nehmen. Schade jetzt auch. Sie dürfen jetzt nach hinten in die Vergessenheit wegtreten.

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