September 9, 2016 – 6 Elul 5776
Gedanken zum Gedenken

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Vor 77 Jahren begann der Zweite Weltkrieg  

Von Monty Aviel Ott

77 Jahre sind vergangen. Vor 77 Jahren brach der nationalsozialistische Terror über Europa herein. Es gab Millionen Tote. Die genaue Zahl ist bis heute unbekannt, was nicht zuletzt am industriellen Terror der Konzentrations- und Vernichtungslager liegt. Das unfassbare Leid, das in diesen Jahren herrschte, hat seine tiefen Spuren bis heute hinterlassen. In diesem September wird zum 77. Mal der Jahrestag des Kriegsbeginns begangen. Ich habe mir Gedanken über das Gedenken gemacht.

Vor 77 Jahren starteten die Deutschen und ihre Helfervölker den Versuch Europa judenrein zu machen. Die deutsche Wehrmacht brach auf einen Krieg zu entfesseln, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Es waren sechs Jahre Krieg, doch nie zuvor und nie danach gab es etwas Vergleichbares. Die schreckliche Hybris aus Vernichtungskrieg und industriellem Massenmord bildet bis heute eine Singularität. Viele Staaten in Europa ringen mit ihrem Erbe, das teilweise nicht unterschiedlicher sein könnte. Das merkt man allzu häufig in jüdischen Gemeinden. Hier treffen beispielsweise Geflüchtete aus der ehemaligen Sowjetunion auf Kinder und Enkel der Überlebenden aus Deutschland.

Nationale Narrative können hier eine komplizierte Rolle spielen. Selbstverständlich gibt es unter denjenigen, die im Zuge der sogenannten „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland gekommen sind, auch zahllose Familien, deren Angehörige und Freunde ermordet wurden. Dennoch lebte man mit dem nationalen Narrativ der Siegernation. Hier gab es viele Kriegshelden, die den Faschismus in Europa zurückgeschlagen haben. Diejenigen jüdischen Familien, die in Deutschland überlebt hatten, oder kurz nach dem Krieg hier verblieben waren, wuchsen mit dem Narrativ auf, dass Jüdinnen und Juden zur Schlachtbank geführt worden waren. Erzählungen wie der Warschauer Ghettoaufstand nahmen nur eine kleine Rolle ein. Dementsprechend kann man sich vorstellen, dass sich die Anzahl der Perspektiven erst recht ins Exponentielle steigert, wenn man den Raum jüdischer Gemeinden verlässt. Die Blickwinkel auf die Geschichte sind mit den jeweiligen Gedenkkonstruktionen verbunden und nötigen dem Einzelnen eine Reaktion ab: Abwehr oder Akzeptanz.

Es gehört zum Prozess des Aufwachsens in dieser Gesellschaft, dass man einen Blickwinkel adaptiert, oder diverse Blickwinkel reflektiert. Die angesprochenen Reaktionen können beispielsweise dazu führen, dass sich Menschen gegen Krieg aussprechen. Sie ziehen dann zu Ostermärschen los oder halten Reden gegen den Krieg am Jahrestag des 1. Septembers. Ohne Zweifel – Krieg ist schrecklich. Eine Welt ohne Krieg wäre eine bessere. Aber wir leben nicht in einer Traumwelt, sondern in der Realität. Und in dieser Realität gibt es Individuen und Kollektive, die dazu bereit sind Menschen zu unterjochen, zu versklaven und zu ermorden, um ihre Ziele zu erreichen.

Trotz des Schreckens, den Krieg mit sich bringt, ist er ein probates Mittel, um diejenigen aufzuhalten, die eine Terrorherrschaft errichten wollen oder dies bereits getan haben und die damit drohen, Massaker und Massenmorde anzurichten. Keineswegs möchte ich sagen, dass Kriege der Diplomatie überlegen sind und man sich vorschnell in sie stürzen sollte. Nein, ich möchte sagen, dass Kriege in dieser Welt notwendig sind. Und wenn wir dieser Tage uns auf den deutschen Angriffskrieg von 1939 zurückbesinnen, dann sollten wir auch darüber nachdenken, wie dieser Krieg beendet worden ist.

Auschwitz ist nicht mit Sonnenblumen und Friedenskettchen befreit worden, sondern mit Panzern und Gewehren. Das nationalsozialistische Unrechtsregime wurde nicht mit Süßholzraspelei, sondern Kampfbombern und Soldaten besiegt. In den uns vorauseilenden Generationen wurde auf diverse Art und Weise ein Umgang mit dieser Geschichte gesucht. Heute versuchen etliche einen Schlussstrich zu ziehen. Goethe und Schiller statt Hitler und Himmler. Fakt ist jedoch, dass alle vier zu dem nationalen Narrativ dieses Landes gehören. Einen adäquaten Umgang formulierte beispielsweise Theodor W. Adorno: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ Bisher scheint die Forderung Adornos aufzugehen, hat doch in den vergangenen Jahrzehnten nichts das Licht der Erde gesehen, was mit der Mordfabrik zu vergleichen wäre. (…)

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