Juni 2, 2016 – 25 Iyyar 5776
Erdogans Ermächtigungsgesetz

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Nach Aufhebung ihrer Immunität droht vielen türkischen Parlamentariern Gefängnis  

Von Jerome Lombard

An den 20. Mai 2016 wird man sich in der Türkei noch lange erinnern. Das Datum wird als denkwürdiges in die Geschichtsbücher eingehen. Als der Tag nämlich, an dem sich das türkische Parlament faktisch selbst entmachtet hat. Als schwarzer Freitag für die türkische Demokratie. Als Ereignis, welches den machtbesessenen Präsidenten Recip Tayyip Erdogan einen weiteren Schritt zu seinem erklärten Ziel – der Errichtung eines auf seine Person zugeschnittenen präsidentiellen Systems mit erkennbar autokratischen Zügen – näher gebracht hat.

Mit einer deutlichen Mehrheit von 376 Stimmen beschloss das Parlament in Ankara eine Änderung der Verfassung, durch die 138 Abgeordneten automatisch die parlamentarische Immunität entzogen werden kann. Von den insgesamt 550 Parlamentariern votierten nur 140 mit Nein. 15 enthielten sich ihrer Stimme oder gaben ungültige Abstimmungszettel ab. Dank der somit sogar übertroffenen Zweidrittelmehrheit muss die Verfassungsänderung nicht mehr durch ein Referendum von der Bevölkerung genehmigt werden. Dass damit ein Absatz des Artikels 83 der türkischen Verfassung, nach dem die Aufhebung des Immunitätsstatus lediglich im begründeten Einzelfall und durch Abstimmung des Gesamtparlaments möglich ist, angeblich nur vorübergehend gestrichen wird, ist für die Betroffenen nicht mal ein kleiner Trost.

Denn allen 138 Abgeordneten, gegen die die Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet hat, wird umgehend die Immunität entzogen. Sobald Erdogan den Parlamentsbeschluss unterschrieben hat und dieser dann im Amtsblatt veröffentlicht wird, können die gewählten Volksvertreter vor Gericht gestellt werden. Ins Parlament eingebracht wurde das ganze Vorhaben von Erdogans getreuem Fanclub, der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Urheber der Initiative war aber der neue starke Mann an der türkischen Staatsspitze höchstpersönlich. Erdogan hatte vor der Abstimmung im Parlament zur Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten der linksgerichteten „Partei der Völker“ (HDP) aufgerufen. Und dass sich die jetzt durchgesetzte Verfassungsinitiative vor allem gegen die kurdischen Politiker richtet, daran kann kein Zweifel bestehen: Gegen 50 der insgesamt 59 HDP-Abgeordneten wird wegen schwerer Meinungsdelikte und dem Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, namentlich der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, ermittelt.

Erdogan hatte die HDP immer wieder als „verlängerten politischen Arm“ der ihm verhassten bewaffneten kurdischen Kampforganisation bezeichnet, mit deren Milizen sich die türkische Armee seit der von Erdogan verkündeten Aufkündigung des türkisch-kurdischen Friedensprozesses im Sommer vergangenen Jahres vor allem im Südosten des Landes fast täglich tödliche Scharmützel liefert. Die erhobenen Vorwürfe gegen die kurdischen Abgeordneten sind so bizarr wie haltlos. Man werfe nur einen kurzen Blick in die Anklageschriften. Ein Beispiel: Dem HDP-Politiker Mengir Mehmet Firat wird neben anderen Vergehen Beleidigung des Präsidenten vorgeworfen. Als Beweis soll ein Facebook-Post herhalten, der auf einer Seite veröffentlicht wurde, die nicht auf Firats Namen angemeldet ist. Und das Schärfste: Die vermeintliche Straftat soll sich am 31. August 2016 zugetragen haben, also in der Zukunft. Wäre die Lage nicht so dramatisch ernst, könnte man über die Lächerlichkeit einer solchen Anklage nur lachen. Die restlichen 88 von der Immunitätsaufhebung betroffenen Abgeordneten kommen aus den zwei weiteren Oppositionsparteien, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP (51 der 133 Abgeordneten) und der ultranationalistischen MHP (9 der 59 Abgeordneten) sowie der AKP (27 der 317 Abgeordneten). Auch der einzigen unabhängigen Parlamentarierin wird ihre Immunität entzogen. Gegen alle nicht-kurdischen Parlamentarier soll wegen minder schwerer Vergehen, darunter Amtsmissbrauch und Korruption, ermittelt werden.

Die Reaktionen auf das Abstimmungsergebnis in der Türkei waren polarisiert und erwartbar. Erdogan, der mal wieder das bekommen hat, was er wollte, bezeichnete das Ergebnis als „historische Abstimmung“ und sagte in dem für einen Autokraten typischen Tabula-Rasa-Duktus: „Mein Volk will in diesem Land keine schuldigen Parlamentarier in diesem Parlament sehen. Vor allem will es jene nicht im Parlament sehen, die von der separatistischen Terrororganisation (PKK) unterstützt werden.“ Den Staatsanwälten rief er mit martialischen Worten zu: „Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen.“ Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas, der persönlich von dem Immunitätsentzug betroffen ist und sich diverser Anklagen ausgesetzt sieht, kündigte Verfassungsklage gegen den Parlamentsbeschluss an. Seine Partei werde niemals eine Verfassungsänderung akzeptieren, die „ein Schritt zur Stärkung des (Präsidenten)Palastes auf dem Weg in die Diktatur“ sei.

Breite Front gegen Kurden
Die für die Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit kam zustande, da Abgeordnete der Fraktionen von CHP und MHP zusammen mit der AKP votierten. Und das wohlgemerkt, obwohl durch das Votum auch eigenen Parteikollegen die Immunität entzogen wird. Das Signal, dass die ethnisch-türkischen Politiker aller drei Parteien mit dieser Abstimmung an die Kurden senden, ist fatal: Ihr habt kein Anrecht auf eine demokratisch legitimierte politische Vertretung in Ankara. Sollten nämlich die HDP-Abgeordneten verurteilt werden, wovon angesichts der Erdogan treu ergebenen Justiz ausgegangen werden darf, verlieren sie auch ihre Mandate. Sogar ein Verbot der HDP ist dann wahrscheinlich.

Nachwahlen oder aber vorgezogene Parlamentsneuwahlen wären die logische Konsequenz. Genau das ist Erdogans Kalkül. Eine diskreditierte beziehungsweise illegalisierte HDP wird kaum in der Lage sein, bei neuerlichen Wahlen ihre Sitze zu verteidigen. Die AKP hingegen steht bereit, die so freigewordenen Mandate zu übernehmen. Eine eigene Zweidrittelmehrheit im Parlament wäre möglich und Erdogan könnte seine Verfassungsinitiative zur Änderung des politischen Systems vom Parlamentarismus zum Präsidentialismus durchbringen. Der neu gewählte AKP-Chef und Premierminister Binali Yildirim hat dieses Vorhaben sogleich auch als Aufgabe mit „höchster Priorität“ bezeichnet. Und sollte es nach den Neuwahlen doch nicht für eine Zweidrittelmehrheit der AKP reichen, kann sich Erdogan immer noch auf seine Unterstützer aus den Reihen der Ultranationalisten verlassen. Die erklärten Kurdenhasser und Rechtsextremen der MHP, seit den letzten Wahlen mit 16 Prozent immerhin drittstärkste Fraktion im Parlament, hatten Erdogans Initiative zur juristischen Verfolgung der HDP-Politiker genauso wie schon die Aufkündigung des Friedensprozesses frenetisch unterstützt. MHP-Parteichef Devlet Bahceli, der sich in der Vergangenheit auch gerne mal für die Zerstörung aller widerständigen Städte im kurdischen Südostanatolien samt Tötung ihrer Einwohner ausgesprochen hat, dankte Erdogan für die „Ausschaltung der sogenannten HDP-Politiker.“ Die MHP könnte zum Steigbügelhalter für Erdogan werden.

Gesellschaftliche Gräben vertiefen sich 
Für die Türkei bedeutet der Parlamentsbeschluss nichts Gutes. Das Hohe Haus hat sich als legitime legislative Kontrollinstanz selbst verabschiedet. Kein Weg führt mehr an Erdogan vorbei, der unaufhörlich seine persönlichen Machtinteressen verfolgt und das Land im Sinne seiner islamistisch-nationalistischen Ideologie umbaut. Sein Projekt einer „neuen Türkei“ hat dabei viele Anhänger. Den Kurden wurde der Glaube an eine funktionierende türkische Demokratie mit gesicherten Minderheitenrechten und einen zielführenden politischen Friedensprozesses genommen. Das jetzt schon große Heer von Freiwilligen, aus dem die PKK ihre Kämpfer rekrutiert, wird weiter wachsen. Wenn wieder mehr Kurden zu den Waffen greifen, droht der Türkei ein Abdriften in den Bürgerkrieg. Der gesellschaftliche Frieden, der ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Aufschwung vergangener Jahre war, ist einer äußerst polarisierten Frontstellung gewichen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Das ist Erdogans Definition des Politischen. Spätestens jetzt hat er die Kurden als klare Gegner bestimmt. Der autoritäre Kurs des Präsidenten scheint unaufhaltsam.

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