November 3, 2016 – 2 Heshvan 5777
„Ein Schlag ins Gesicht aller jüdischen Soldaten“

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Vor 100 Jahren: Die „Judenzählung“ von 1916 und ihre Wirkung  

Von Theodor Joseph

Seit den Befreiungskriegen waren den deutsch-jüdischen Soldaten Davidstern und Eisernes Kreuz gleichwertige Symbole für jüdischen Glauben, Kultur und Lebensart wie ebenso für den sein Vaterland verteidigenden deutschen Staatsbürger.

Im August 1914 hoffte die große Mehrheit der deutschen Juden, durch Betonung ihrer patriotischen Überzeugung die letzten Hindernisse auf dem Wege der Eingliederung in die Gesellschaft zu überwinden. Ausnahmslos sämtliche jüdischen Organisationen in Deutschland, quer durch alle Schichtungen und Schattierungen riefen die Juden am Tag der Mobilmachung auf, freiwillig zu den Waffen eilen. „Dass jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich“. Oder es hieß mit religiöser Konnotation: „Wir rufen Euch auf, im Sinne des alten jüdischen Pflichtgebots mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen Euch dem Dienst des Vaterlandes hinzugeben“.

Folgerichtig zogen im August etwa 100.000 deutsch-jüdische Soldaten – der größte Teil freiwillig – ins Feld. 1.500 von ihnen erhielten das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Der Fliegerleutnant Wilhelm Frankl war einer von ihnen. Er war mit 16 Abschüssen einer der erfolgreichsten Jagdflieger des Ersten Weltkrieges und wurde mit dem „Pour le Mérite“ ausgezeichnet – nachdem er sich hatte taufen lassen. Im April 1917 wurde er selbst abgeschossen.

Die Verkündung des Burgfriedens aus dem Mund des Kaisers, keine Parteien mehr zu kennen, sondern nur noch Deutsche, war ein Versöhnungsangebot, das zwar nicht den Juden expressis verbis zugedacht war, gleichwohl begeisternden Jubel bei ihnen weckte.
Doch der Burgfrieden erwies sich als trügerisch. Bösartige Äußerungen von antisemitischer Seite machten mit der Fortdauer des Krieges in Militärkreisen die Runde. „Überall grinst das Judengesicht, nur im Schützengraben nicht!“, war ein für diese Zeit typischer, die Juden verunglimpfender und diffamierender Spottvers, der nicht nur an Stammtischen kursierte.

Selbst ein „Heldentod“ konnte die Antisemiten nicht vom Gegenteil überzeugen und ließ sie nicht von ihrem Vorurteil abrücken. Als die Nachricht vom Tod des an der Front gefallenen SPD-Reichstagsabgeordneten und politischen Hoffnungsträgers der Partei, Ludwig Frank, der bereits in der ersten Kriegswoche an der Westfront fiel, bekannt wurde, kommentierten sie in unüberbietbarem Zynismus: „Immer diese Juden. Selbst beim Sterben müssen sie sich noch vordrängeln!“ Welch eine Schmach über einen Mann, der ohne nationalistisches Pathos als 40-jähriger Rekrut die Strapazen des Militärdienstes auf sich genommen hatte!

In einem Brief, den Frank wenige Tage vor seinem Abmarsch an die Front geschrieben hatte, heißt es mit leiser Selbstironie: „Ich stehe an der Front wie jeder andere, ich werde von allen mit Rücksicht behandelt. Aber ich weiß nicht, ob auch die französischen Kugeln meine parlamentarische Immunität achten“. Auch Frank versprach sich von seinem Einsatz als Soldat an der Front die politische Gleichberechtigung aller Bürger in Deutschland und meinte: „Ich habe den sehnlichen Wunsch, den Krieg zu überleben und dann am Innenbau des Reiches mitzuschaffen. Aber jetzt ist für mich der einzig mögliche Platz in der Linie in Reih und Glied, und ich gehe wie alle anderen freudig und siegessicher“.

Die Hoffnungen der jüdischen Organisationen, durch patriotisches Verhalten ihre gesellschaftliche Stellung festigen zu können, sollten sich jedoch nicht erfüllen. Auf antisemitischen Druck kam es im Oktober 1916 zu der sogenannten „Judenzählung“, mit deren Hilfe das preußische Kriegsministerium den Anteil der Juden an der Front nachprüfen ließ. Fortgesetzte Klagen aus der Bevölkerung, zumeist anonym versandt, über „unverhältnismäßig viele wehrpflichtige Israeliten“, die vom Wehrdienst befreit seien oder sich davor drückten, sowie über eine große Zahl im Heer stehender Juden, die es verstanden hätten, eine Verwendung außerhalb der Front in der Etappe und der Heimat als Beamte oder Schreiber zu finden, waren seit dem zweiten Kriegsjahr beim Kriegsministerium eingelaufen. Diesen Beschwerden sollte nun nachgegangen werden, um einer möglichen Bevorzugung von Juden entgegenzutreten.

Die Begründung des Erlasses und sein provokanter Wortlaut waren außerordentlich beleidigend, weil die Beschuldigung exklusiv auf die Juden abzielte. Ausdrücke wie „unverhältnismäßig große Anzahl“ vom Kriegdienst befreiter Juden, oder Juden, die sich „unter allen möglichen Vorwänden drückten“ und viele andere mehr, waren Formulierungen, die sich gemeinhin in der Agitationsliteratur der Völkischen fanden und wohl für ein antisemitisches Wahlplakat passend gewesen wären, doch es war die Sprache eines offiziellen staatlichen Erlasses, unterzeichnet von einem preußischen Minister. Damit war die Burgfriedenspolitik endgültig aufgekündigt. Der Kampf gegen die „Hinterfrontjuden“, gegen die Herren der „unabkömmlichen Konfession“, die man nur „sehr vereinzelt im Kriege voranstürmen“ sah, wie es wiederholt auf zigtausendfach verbreiteten Handzetteln des „Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes“ geheißen hatte, war eröffnet. Die jüdische Öffentlichkeit war erschrocken – man verstand den Erlass als beunruhigendes Vorzeichen, zumal sich keine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens davon distanziert hatte. Keine andere kriegführende Nation hielt es inmitten blutiger Gefechte für nötig, auf Grund unbewiesener Gerüchte eine Zählung der Soldaten einer loyalen Minderheit durchzuführen.

Nicht nur Kriegsminister Adolf Heinrich Wild von Hohenborn verlangte nach der „Judenzählung“, sondern auch andere Fraktionen. Somit war die „Judenzählung“ nicht die Idee eines einzelnen antisemitischen Akteurs, sondern repräsentierte den Willen einer breiten Bevölkerungsschicht. „Wie viel Personen jüdischen Stammes stehen an der Front? Wie viel in den Etappen? Wie viel Juden sind reklamiert bzw. als unabkömmlich bezeichnet worden?“ Mit diesen parlamentarischen Anfragen an den preußischen Kriegsminister wurde der Abgeordnete Ferdinand Werner, der im Jahre 1933 zum Fraktionsvorsitzenden der NSDAP im Reichstag avancieren sollte, zum eigentlichen Initiator der „Judenzählung“ im Ersten Weltkrieg. Verfasser der „Judenstatistik“ war General Ernst von Wrisberg, der nachweisen wollte, dass jüdische Soldaten sich nach allen Kräften vom Frontdienst drückten. „Ein Machwerk von unglaublicher Schluderhaftigkeit und Bösartigkeit“, so der Soziologe Franz Oppenheimer. (…)

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