Nicht die bolschewistische Oktoberrevolution, sondern die Februarrevolution von 1917 brachte erstmal die Emanzipation für die Juden Russlands 

Von Edgar Seibel

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass die Oktoberrevolution von 1917 die eigentlichen Veränderungen für das Vielvölkergemisch in Russland herbeiführte. Die Bolschewisten sagten sich vom Kurs der Zaren los und strebten die Befreiung des Nationalitätenreichs von seiner Rückständigkeit an. Die Arbeiterklasse sollte als Trägerin des neuen Fortschrittes dienen, eine Industrienation sollte entstehen, und die Adeligen, die Bourgeoisie und Kirche sollten dem Erdboden gleichgemacht werden.

Doch für die Juden des Riesenreichs bedeutete eine andere Revolution die eigentliche große Veränderung im positiven Sinne. Diese jüdische Emanzipation nahm bereits im Zuge der Februarrevolution ihren Anfang – auch wenn diese Blütezeit nicht von langer Dauer sein sollte.

Zwar wird die große russische Oktoberrevolution an die erste Stelle gesetzt, wenn es darum geht über die gewaltigen Umwälzungen im Reich zu sprechen, doch gerade mit unserer genannten Februarrevoltion von 1917 begann die einzige Phase in der Geschichte Russlands, in der für die Begründung von Demokratie gekämpft wurde, und in der den Juden alle staatsbürgerlichen Rechte verliehen wurden.

Russland war hoffnungslos rückständig im Vergleich zu Westeuropa

Der 1812 errungene Sieg über Napoleons Armee bestärkte Status Zarenrusslands als Großmacht, doch blieb das Land wirtschaftlich und sozial im Wettbewerb mit Westeuropa zurück. Das Feudalsystem, in dem Bauern an die Landbesitzer verpfändet waren, blieb bis 1861 bestehen, als Zar Alexander II. die Leibeigenschaft aufhob; obschon die Leibeigenen damit nicht wirklich frei waren, da das Ackerland, das der Bauer über 49 Jahre hinweg abbezahlen sollte, kollektiv der Gemeinde gehörte und der Bauer seine Steuern in der Gemeinde zahlen musste. Um 1900 bestand das agrarisch geprägte Land zu rund 80 Prozent aus Bauern und deren Standesunterschied zu den Adeligen war enorm. Alexanders politische und soziale Reformen schufen ihm mächtige Feinde, die ihn 1881 ermorden ließen. Das Regime seines Nachfolgers Alexander III. führte 1898 zur Bildung der marxistischen Russischen Sozialdemokratischen Partei unter der Führung von Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Lenin.

Das ausbleibende Kriegsglück untergrub die Autorität des Zaren

Die inneren Unruhen wuchsen nach Russlands Niederlage im Krieg gegen Japan 1904/05 und zwangen Nikolaus II. zur Einrichtung eines Parlaments, der Staatsduma, das von einer sehr begrenzten Anzahl Stimmberechtigter gewählt wurde.

Die Reformen vermochten nicht die revolutionäre Flut einzudämmen, die durch die Rückschläge und die hohen Verluste an Menschenleben im Ersten Weltkrieg weiter verstärkt wurde.

Im Februar 1917 brachen schließlich in der Hauptstadt Sankt Petersburg (Petrograd/Leningrad) Aufstände und Streiks aus. An der Spitze des Aufstandes stand der spätere letzte Ministerpräsident Russlands, Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881-1970). Die Protestmenge soll rund 200.000 Menschen gezählt haben. Es kam sogar zu Massendemonstrationen innerhalb der russischen Truppen, und Zar Nikolaus II. dankte letztendlich ab. Damit war der Grundstein für die Revolution vom Oktober 1917 gelegt, aus der die Allrussische (auch Gesamtrussische) Kommunistische Partei mit Lenin als diktatorischem Vorsitzenden führend hervorging. Es folgte ein vier Jahre dauernder Bürgerkrieg, an dessen Ende die Kommunisten die vollständige Kontrolle über das Land errungen hatten.

Im Dezember 1922 wurde Russland mit Moskau als Hauptstadt zur führenden Macht in der neugegründeten Sowjetunion.

Aufhebung aller Beschränkungen für die Juden am 16. März 1917

Nach dem „Grundstein“, der Februarrevolution, genauer am 16. März 1917, hob die neue Regierung sämtliche zuvor vom Zarenreich initiierten Beschränkungen (die für die Juden – mit Ausnahme der Karaimen – galten) gegen die jüdische Bevölkerung auf. Während der Zarenherrschaft durften sie nur im sogenannten Ansiedlungsrayon im Westen des Reiches leben. Zudem war ihnen eine höhere Bildung verwehrt. Jetzt aber durften die Juden sich im wahrsten Sinne des Wortes frei bewegen, all die staatsbürgerlichen Rechte galten nun auch für sie: sie durften in der Armee aufsteigen, als Anwälte arbeiten, in der Verwaltung tätig werden, am politischen Leben teilnehmen. Im Mai 1917 wurde in Sankt Petersburg die siebte Konferenz der Zionisten Russlands abgehalten. 149 antijüdische Gesetze wurden aufgehoben. Euphorisch berichteten etwa zionistische Periodika über die umwälzenden Entwicklungen im Zarenreich. Gleichzeitig wurde innerhalb des zionistischen Diskurses unter Rückgriff auf historische Erfahrungswerte die Möglichkeit anfänglicher Rückschläge für die Juden-Emanzipation nicht vollständig ausgeschlossen. So hob beispielsweise der Leitartikel in der Jüdischen Rundschau vom 23. März 1917 hervor, dass „das schwer geprüfte jüdische Herz keine Ruhe [kennt]“, da die russischsprachigen Juden wüssten, „dass einst dem 17. ein 18. Oktober“ folge – eine Anspielung darauf, dass nach dem Scheitern der Revolution von 1905 eine große Pogromwelle das Land erschüttert hatte.

Mit dem revolutionären Umsturz im Russischen Reich im Frühjahr 1917, der den Weg für die Emanzipation der russischen Juden ebnete, verband die zionistische Seite außerdem die Hoffnung, die eigene Bewegung dort durch eine umfangreiche Zionisierungsmission zu stärken.

Kerenski, der neue Premierminister der provisorischen Regierung, war ein Sozialrevolutionär, berief sich aber nicht auf Marx, sondern auf die Tradition der Volkstümler, die in den bäuerlichen Dorfgemeinschaften den Keim für den zukünftigen Solidarstaat erblickten. Er wurde nach der Oktoberrevolution von den Bolschewisten gestürzt.

Pogrome der Weißen in der Ukraine

Alexander Kerenskis neue Politik brachte zwar den Juden und auch allen anderen Minderheiten im Land die rechtliche Gleichstellung, doch nach der folgenden Oktoberrevolution – es kam wie es kommen musste – kam es im russischen Bürgerkrieg zu den bislang schwersten Pogromwellen in den Gebieten, die die sogenannten „Weißen“ Konterrevolutionäre gesetzt hatten. Dies kostete, vor allem in der Ukraine, etwa 60.000 Juden das Leben.

Und es hat durchaus auch jüdische Intellektuelle gegeben, die dem neuen Regime sehr kritisch gegenüberstanden. So sagte der Kulturhistoriker Michail Gerschenson, die bolschewistische Katastrophe sei als ein Verlust des schöpferischen Selbstbewusstseins der Menschen zu betrachten.

Während des praktizierten Realsozialismus der kommunistischen Ostblockstaaten entstanden schließlich neue Klassen und mit ihnen wiederum neue Formen des Antisemitismus. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte.

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