November 3, 2016 – 2 Heshvan 5777
Die Romaniotes in Thessaloniki

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Schon vor der Ankunft der Sephardim gab es Juden in Griechenland  

Von Miriam Magall

Schon im Buch Jesaja (66,19) werden Juden in Griechenland erwähnt. Wann genau sie im Land eintreffen, ist jedoch ungewiss. Gemäß verschiedener Quellen sollen Juden nach dem Aufstand der Hasmonäer um 165 v.d.Z. oder aber um das Jahr 140 v.d.Z. aus Alexandria in Ägypten in Thessaloniki eingetroffen sein. Wie dem auch sei, jüdische Gemeinden auf griechischem Boden sind sowohl zur hellenistischen als auch zur römischen Zeit belegt. Später bezeichnet man diese Juden als Romaniotes, um sie von den seit dem Ende des 15. Jahrhunderts vor allem aus Spanien und Portugal eintreffenden Juden, den Sefardim, zu unterscheiden. Die Romaniotes sprechen Griechisch, das sie mit hebräischen Buchstaben schreiben. Ihre älteste Synagoge (in der der Apostel Paulus gepredigt haben soll) war die in Thessaloniki, und sie nannten sie Etz Chajim, „Baum des Lebens“, ein bis heute beliebter Name für Romaniotes-Synagogen. Sie lag nahe beim Hafen.

Das jüdische Thessaloniki von der Antike bis zum Mittelalter
Nach der Teilung des Römischen Reiches in einen West- und einen Ostteil (395 d.Z.) steigt Thessaloniki nach Konstantinopel zur zweitgrößten Stadt auf. Unter den byzantinischen Kaisern lernen Juden erstmals Verfolgung und Zwangstaufen kennen. Dennoch berichtet der jüdische Reisende Benjamin von Tudela, der 1160 in Thessaloniki eintrifft: „Hier leben 500 Juden.“ Griechenland wird im Jahr 1376 ein Zufluchtsort für Juden aus Ungarn und Deutschland; später, 1391 und 1394, treffen kleinere Gruppen von Juden aus Mallorca und der Provence im Land ein. Während der Herrschaft Venedigs 1423 bis 1430 erfolgt ein lebhafter Zuzug von Juden aus Italien und Sizilien. 1430 fällt Thessaloniki an die Osmanen.
Als Mehmed II. nach seiner Eroberung der byzantinischen Stadt Konstantinopel (1453) einen Bevölkerungstransfer einleitet, um seine neue Hauptstadt wieder zu bevölkern, nachdem die byzantinischen Christen daraus geflohen sind, müssen auch alle Bewohner von Thessaloniki ihre Sachen packen, ob sie es wollen oder nicht, und nach Istanbul, wie Konstantinopel jetzt heißt, ziehen. Wegen dieses Bevölkerungstransfers erwähnt der Zensus von 1478 keinen einzigen Juden in Thessaloniki.

In der nun praktisch menschenleeren Stadt dürfen sich dann kurz darauf die Zuwanderer aus Spanien niederlassen. Nach 1497 steigt die Zahl der jüdischen Einwohner daraufhin stetig an. Schon 1529 gibt es 2.645 jüdische Haushalte – gegenüber 1.229 muslimischen und 989 griechisch-christlichen Haushalten. Die jüdische Gemeinde nimmt dank natürlichem Wachstum, Zuwanderung aus verschiedenen europäischen Ländern sowie der Ankunft von „neuen Christen“ zu: Das sind die Juden, die in Spanien und Portugal offiziell zwar zum Christentum übertreten, heimlich jedoch weiterhin ihr Judentum praktizieren. Diese so genannten Sefardim, die aus Sfarad, also „Spanien“, stammen, beeinflussen das Judentum in Griechenland so nachhaltig, dass zum Beispiel die Romaniotes in Thessaloniki anfangen, Ladino zu sprechen und zu schreiben.

Im Jahr 1613 machen Juden in Thessaloniki 68 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. In den nächsten hundert Jahren wird die Stadt gerne als das „Jerusalem des Balkans“ oder, auch dieser Bezeichnung begegnet man bei der Suche nach historischen Tatsachen wiederholt, Madre de Israel, das heißt „Mutter Israels“, bezeichnet und steigt im 17. Jahrhundert zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit auf, aus dem renommierte Rabbiner, Dichter und Ärzte hervorgehen.

Im 19. Jahrhundert beherrschen die Juden demographisch und wirtschaftlich Thessaloniki. 1864 geben sie eine erste jüdische Zeitung, „El Lunar“, heraus; 1873 öffnet die Alliance Israélite eine Schule für Juden in Thessaloniki, um ihre Ausbildung an europäische Standards anzupassen. Insgesamt 70.000 Juden leben zu diesem Zeitpunkt in der Stadt; das ist die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Am Schabbat und an jüdischen Feiertagen sind die Geschäfte in der Stadt geschlossen, im Hafen ruht die Arbeit. Die jüdische Gemeinde unterhält 30 Synagogen und zwölf weitere Beträume, daneben betreibt sie Schulen und eine Talmud-Thora-Hochschule.

Einen schweren Rückschlag erleidet die jüdische Bevölkerung in Thessaloniki im August 1917: Ein gewaltiges Feuer in der Stadtmitte wütet und zerstört großflächig die jüdischen Stadtviertel. Insgesamt 53.737 Juden stehen danach ohne ein Dach über dem Kopf da, 31 Synagogen und Bethäuser sind zerstört. Es ist ein schrecklicher Schlag für die jüdische Gemeinde.

Zwischen den beiden Weltkriegen wandern viele Juden aus, viele in das spätere Israel, wo sie im Hafen von Haifa einen großen Teil der Schauerleute (Hafenarbeiter) stellen; ebenso gründen sie den Moschaw Zur Mosche und das Florentin-Viertel in Tel-Aviv. Andere zieht es nach Frankreich und Italien, in die USA und nach Lateinamerika.

Problematisch wird die Lage für die Juden Griechenlands als der Zweite Weltkrieg ausbricht. 1940 leben allein in Thessaloniki 50.000 Juden. Die Deportation der Juden aus Griechenland beginnt ab März 1943. In insgesamt 19 Todeszügen werden aus Thessaloniki 50.000 Juden, aus ganz Griechenland 65.000 Juden in die Todeslager deportiert. Einige Juden flüchten in die Berge und schließen sich den Partisanen an. Dadurch überleben sie. Am Ende des Krieges gibt es noch 12.000 Juden in Griechenland. Seither sind über 7.000 Juden nach Israel und in die USA ausgewandert. 2016 leben ungefähr 5.000 Juden in Griechenland, vor allem in Athen, 3.000, und Thessaloniki, 1.000. Kleine bis winzige Gemeinden gibt es zudem in Ioannina, auf Rhodos, Kreta und Korfu und einige auf der einen oder anderen Insel.

Die Juden in Thessaloniki heute
Die jüdische Gemeinde zu Saloniki verfügt heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, über gerade einmal drei Synagogen bzw. Beträume, die, außer der Monastiriótes-Synagoge, diskret in anderen Gebäuden untergebracht sind – ein schwacher Abglanz von den über 30 Synagogen und Beträumen vor 1945. Aber inzwischen leben ja auch nur noch 1.000 Juden in Thessaloniki, die meisten die Nachfahren von Schoah-Überlebenden. (…)

Nützliche Anschriften:
Jewish Community Centre, 26 Vasileos Irakliou Street, Thessaloniki, E-Mail: info@jct.gr
Die Yad Lazikaron-Synagoge, direkt neben dem geschäftigen Markt, Vassiléos Irakliou Street 26, Thessaloniki
Die Monastiriótes-Synagoge, Syngroú Street 35, Thessaloniki
Das Saul-Modiano-Altenheim, Kímonos Vóga Street 41, Thessaloniki
Die Holocaust-Gedenk-Menora, Freiheitsplatz, Thessaloniki
Das Museum der Jüdischen Gemeinde von Thessaloniki, Aghiou Mina 13, 546 24 Thessaloniki, Tel.: 0030-2310 250406, Fax-Nr.: 0030 2310 250407
E-Mail: info@jmth.gr, Webseite: www.jmth.gr
Geöffnet: Di, Fr, So 11-14 Uhr, Mi, Do 11—14, 17-20 Uhr; Sa: geschlossen
Das Restaurant „Agioli Sefarad“, Thessaloniki, 15, Nikis Str., direkt an der Strandpromenade, Tel.: 0030-2310 426 937, Mob. 0030-6978 008 301
info@agiolisefarad.gr, www.agiolisefarad.gr
Geöffnet: So bis Do 12-1 Uhr; Fr im Sommer: bis 3 Std. vor Schabbath-Beginn; Sa 12.30 nur mit vorheriger Bestellung & Bezahlung; Samstagabend nach Schabbath bis 1 Uhr

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