Juni 1, 2017 – 7 Sivan 5777
Die Juden – ein ausgestoßenes Volk

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Ei Plädoyer für die Antisemitismus-Kritik von Hyam Maccoby (Teil 2)  

Von Peter Gorenflos unter Mitwirkung von Emanuel Rund

Dämonisierung im Mittelalter
Der Wendepunkt nach einer Phase relativer Toleranz kam für die jüdische Bevölkerung im 11. Jahrhundert zunächst in Deutschland und Frankreich, als die christliche Gehirnwäsche anfing Früchte zu tragen. Es gab Gerüchte, dass Christen unter muslimischer Herrschaft schlecht behandelt würden und irgendwie machte man die Juden dafür verantwortlich.

Auf der Grundlage geheimnisvoller Anspielungen von Paulus in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher entstand die Legende vom Antichristen, weiterentwickelt durch die Kirchenväter Irenäus, Hippolyt und Lactantius. Diese extravagante Zukunftsvision unterschied sich grundsätzlich von der herkömmlichen Vorstellung, dass „die Juden“ eines Tages Einsicht in ihr verbrecherisches Tun gewönnen, ihre Rolle im christlichen Mythos akzeptierten und mit der Einsicht, dass Jesus Christus der wahre Messias und Erlöser sei, dessen zweite Wiederkunft einleiten würden.

Alternativ zu dieser Version würde zu Beginn der Endzeit ein Mann erscheinen, der die Heere des Teufels gegen die Heere Jesu führt. Dieser Mann, der Antichrist, ist ein Jude aus Babylon, der sich nach Palästina begibt, den Tempel wieder aufbaut und ein weltumfassendes jüdisches Imperium regiert. Auf dem Höhepunkt seines Erfolges tritt die Wiederkunft Christi ein, der seine Heere gegen den Antichristen führt, ihn besiegt und alle seine Anhänger inklusive des jüdischen Volkes vernichtet, um ein Tausendjähriges Reich zu errichten. Diese christliche Vision trug nun Früchte und es kam zu Pogromen in Rouen, Orleans, Limoges und Mainz. Als Papst Urban II. 1096 zum ersten Kreuzzug aufgerufen hatte, um Jerusalem zu befreien, massakrierten die Kreuzritter alle Juden, die ihnen auf ihrem Weg begegneten. Diese Gewaltausbrüche brachten die Juden Europas außerhalb Spaniens an den Rand der Ausrottung und wären fast zu einer rein christlichen Endlösung geworden.

Der jüdische Alptraum, der nun unter christlicher Herrschaft begann, beinhaltete auch ihren Ausschluss aus den wachsenden Gilden und das Verbot, angesehene Berufe auszuüben. Ihre lange Tradition als internationale Händler, Bauern, Winzer oder Ärzte fand nun ein Ende. Sie hatten aber die Erlaubnis zum verpönten Geldverleih gegen Zinsen erhalten, was ihnen den Ruf von Wucherern einbrachte und den Judas-Mythos vom geldgierigen Verräter Christi anfeuerte. So wurden sie unfreiwillig die ersten Bankiers Europas.
Blutbeschuldigung in England
In England begann eine andere, neue Form des Alptraumes, die Blutbeschuldigung. Der erste Fall war der Wilhelms von Norwich im Jahr 1144. Man behauptete, Juden hätten vor dem Osterfest ein Christenkind gekauft, gefoltert und am Karfreitag aus Hass gegen Jesus Christus gekreuzigt. Der Fall hatte vor Gericht keinen Bestand, aber die Resonanz darauf war so groß, dass diese Geschichte immer mehr Glauben fand und sich epidemisch ausbreitete. „Geständnisse“ wurden unter Folter erpresst, jüdische Bürger wurden hingerichtet und ganze Gemeinden ausgelöscht. Ein weiterer Fall war der des Hugo von Lincoln im Jahre 1255. Nachdem dieses Kind drei Wochen lang vermisst wurde, fand man seine Leiche in einer Jauchegrube, in der es offensichtlich ertrunken war. Zu dieser Zeit fand eine jüdische Hochzeitfeier in Lincoln statt, so dass sich die Ritualmordbeschuldigung anbot. Ein Jude namens Copin wurde so lange gefoltert, bis er gestand, der Knabe Hugo sei von ihm und seinen Glaubensbrüdern gefoltert und dann gekreuzigt worden. 19 Juden, einschließlich Copin selbst, wurden daraufhin gehängt. Diese angeblichen Ritualmorde wurden Juden durch das gesamte Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert vorgeworfen und haben ganz wesentlich zu ihrer Dämonisierung beigetragen.

Sie wurden vor allem vom niederen Klerus propagiert, aber auch die Civiltà Cattolica, ein offizielles Periodikum der katholischen Kirche, vertrat die Blutbeschuldigung seit ihres Erscheinens 1849 mit gehässiger Verbissenheit und forcierte 1870 sogar ihre Bemühungen, zusammen mit zahlreichen anderen katholischen Zeitungen, nachdem die Reste des Vatikanstaates von italienischen Truppen eingenommen worden waren.

Im 12. Jahrhundert kam die Marienverehrung auf
Hyam Maccoby beschreibt, wie es im 12. Jahrhundert zu einer bedeutenden psychologischen Wandlung in der Christenheit kam. Hatte man vorher Jesus als jungen Mann dargestellt und verehrt, so rückte nun der kindliche Jesus ins Blickfeld der Gläubigen. Parallel dazu kam die Marienverehrung auf, die zuvor keine Rolle gespielt hatte. Offensichtlich hatte sich in der christlichen Bevölkerung die Einbildung verbreitet, in der Abendmahlshostie sei eher das Christkind gegenwärtig als der Körper eines jungen Mannes. Das Zerstückeln und Aufessen eines Kleinkindes war im Wesentlichen ein religiöser Akt, den die Christen selbst in ihrer Phantasie vollzogen, der aber mühelos verschoben und den Juden zum Vorwurf gemacht werden konnte. Erst von dieser Zeit an begann man Juden als Untermenschen, als blutsaugende Vampire und Dämonen anzusehen. Es gab auch eine Verbindung zur „Wucherei“, denn manche Kleinadelige entledigten sich ihrer Schulden, indem sie den Mob mit Ritualmordlegenden aufhetzten, die in Massakern an der jüdischen Bevölkerung endeten. Von nun an waren sie endgültig die schwarzen Schafe der Familie, die für alle Katastrophen verantwortlich gemacht wurden, auch für die Pestepidemien, in deren Folge es zu Massakern an ihnen kam.

Nachdem sie auch aus dem Geldgewerbe verdrängt worden waren, begann ihre elendeste Zeit als Hausierer und Pfandleiher, die bis ins 18. Jahrhundert andauerte und nur ihr Stolz, ihre Disziplin, das Studium von Thora und Talmud, sorgten für ihr geistiges Überleben.

Eine Antwort auf die antijüdische Kampagne des christlichen Mittelalters war die Flucht, teils in Länder des Islams, wo es eher Verachtung als Hass auf sie gab, teils in Richtung Osten, z.B. von Deutschland nach Polen, wo man sie wegen ihrer Fähigkeiten und Energie zum Aufbau des Landes willkommen hieß, bis sie dann doch wieder vertrieben wurden, nachdem sie nicht mehr gebraucht und auch dort das Opfer mittelalterlichen Hasses geworden waren.

Eine weitere Antwort war die Konversion, die in der Regel eine Zwangskonversion war, aber auch das Märtyrertum, wie z.B. in York 1190, als man den Tod einer Konversion zu einem Glauben vorzog, der durch das Verhalten seiner Anhänger den Beweis für seine Unwahrheit erbrachte. Die Hauptantwort war allerdings die Standhaftigkeit. Man hatte Ressourcen in der eigenen Tradition, um den Stürmen standzuhalten. Man entwickelte in den jüdischen Quartieren einen Verhaltenskodex, der auf den Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit des Talmuds aufgebaut war. Man betrachtete sich als zivilisiertes Volk in einer barbarischen Umgebung und wies die christliche Vorstellung jüdischer Minderwertigkeit weit von sich. In einer Zeit von weit verbreitetem Analphabetismus konnten fast alle Juden, Männer und Frauen, lesen und schreiben.

Spanien und die „Reinheit des Blutes“
In Spanien kam es 1391 zu einem Massaker an Juden. In dessen Folge konvertierten viele von ihnen zum Christentum und bis zu deren endgültiger Vertreibung im Jahre 1492 stieg die Zahl der Konvertiten auf über 100.000, ebenso viele wählten das Exil. Allen war klar, dass es einem Todesurteil gleichkam im Land zu bleiben ohne seine Religion aufzugeben. Theoretisch war das Christentum „anti-rassistisch“. Wer zum Christentum konvertierte war willkommen, denn die Konversion sämtlicher Juden war nach christlicher Auffassung der Auftakt für die Wiederkunft Christi. Praktisch änderte sich das allerdings, nachdem sie dämonisiert und zu einer verhassten Minorität degradiert worden waren, ausgestattet mit einer abscheulichen Natur, die ihre Ursprünge im zentralen christlichen Mythos hatte. Ab einer gewissen Anzahl wurden sie unverdaulich. Waren sie zunächst durch ihre Konversion von ihren Benachteiligungen befreit und hatten begonnen, ihre natürlichen Talente zu nutzen, um wichtige Positionen in der spanischen Gesellschaft zu besetzen und in angesehenen Berufen aufzusteigen, ging nun plötzlich das Gespenst von der feindlichen Übernahme um. Außerdem standen die Neuchristen, die „conversos“, unter ständigem Verdacht, ihre ursprüngliche Religion im Geheimen weiter auszuüben. Die konvertierten Juden wurden nun die ersten und für lange Zeit einzigen Opfer der spanischen Inquisition, die als lückenlose Überwachung eingesetzt wurde.

Die „limpieza de sangre“ als historischer Vorläufer der Nürnberger Rassengesetze
Mit ihrer Methode der bürokratischen Kontrolle, der Denunziation, der Scheiterhaufen und der Folter gab sie bereits eine Vorahnung auf die Judenverfolgungen unter den Nazis. Auf dieser Grundlage entwickelte sich auch eine quasi-rassistische Ideologie mit den „Statuten der Reinheit des Blutes“ („limpieza de sangre“), einem historischen Vorläufer der Nürnberger Rassengesetze. Die Unterscheidung zwischen Alten und Neuen Christen wurde zunächst auf lokaler Basis, dann, seit 1536, auf nationaler Ebene im Zivilrecht festgeschrieben, überdauerte bis zum Jahr 1876 und machte die konvertierten Juden zu Bürgern zweiter Klasse. Die Jesuiten verboten ab 1592 allen Männern jüdischer Herkunft die Zugehörigkeit zum Orden, wobei der Stammbaum fünf Generationen zurückverfolgt wurde, ein katholischer „Arier-Nachweis“ ante datum.

Die Aufklärung und danach
Es war der Niedergang des Christentums, der die Juden aus ihrer mittelalterlichen Unterdrückung herausführte. Die Französische Revolution brachte 1791 den Durchbruch, dem andere europäische Länder folgten, am spätesten Russland mit der Revolution von 1917. Die kirchliche Hierarchie übte starken Gegendruck aus und wollte den Status der jüdischen Bevölkerung als „verfluchte Nation“ mit allen Mitteln aufrechterhalten und ihnen politische und soziale Rechte vorenthalten. Beispielhaft dafür war der Vatikanstaat oder Kirchenstaat nach dem Wiener Kongress, in dem Ghettos (das Staatsgebiet des Vatikanstaates war damals ungleich größer als heute und umfasste ein bedeutendes Gebiet in Mittelitalien), Kleider-Kennzeichnung mit gelbem Stoff, Zwangspredigten u.v.m. vom Papstkönig wiedereingeführt wurden.

Einige Aufklärer wie Montesquieu mit seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ oder Rousseau mit seinem „contrat social“ hatten großen Respekt vor der jüdischen Tradition und sahen in der Thora eine Art frühen Gesellschaftsvertrag, andere, wie Voltaire und Mirabeau verhielten sich eher verächtlich und gönnerhaft, betrachteten die Juden als abergläubisch und rückständig und nur durch einen langwierigen, schwierigen Prozess zu emanzipieren. Viele, die so dachten, waren dann umso überraschter und schockiert, in welchem Tempo jüdische Bürger in allen angesehenen Berufen Karriere machten, sobald sie von ihrer schäbigen Unterdrückung befreit waren.

Auf einmal machten die Juden Karriere
Die tolerante, aber herablassende Haltung kippte sehr schnell in Missgunst, als die Juden durch ihren schnellen Erfolg alle üblen Vorhersagen widerlegten. Sie waren dafür durch die lange Tradition ihres Studiums des Talmuds mit seinen subtilen, vernünftigen und menschenfreundlichen Betrachtungen bestens qualifiziert.

Außergewöhnliche Personen wie Moses Mendelssohn oder Solomon Maimon rückten von ihrem talmudischen Hintergrund an die Spitze der europäischen Philosophie, gefolgt von zahllosen anderen, weniger spektakulären Aufsteigern in bürgerlichen Berufen. Missgunst und Neid standen am Anfang des modernen Antisemitismus. Die neue Debatte drehte sich um Loyalität und Assimilierbarkeit und aus den Christusmördern des Mittelalters wurden „die Fremden“ schlechthin. (…)

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