Juni 8, 2015 – 21 Sivan 5775
Deutsch ist eine jüdische Sprache

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Die deutschsprachige jüdische Literatur ist zu wertvoll, um ihre Tradition abreißen zu lassen  

Von Chaim Noll

Kürzlich, in einer Diskussion an der Ben Gurion-Universität in Beer Schewa über die Zukunft der deutsch-jüdischen Literatur, ließ die aus Wien stammende, heute in Amerika lebende Schriftstellerin
Ruth Klüger den Satz fallen: „Deutsch ist eine jüdische Sprache“. Niemand widersprach. Als wir vor
rund zwanzig Jahren zum ersten Mal eine Konferenz über deutsch-jüdische Literatur an der Ben Gurion-Universität veranstalteten, eine Konferenz, auf der zwangsläufig deutsch gesprochen
wurde, obwohl die offizielle Konferenzsprache vorsichtshalber Englisch war, kam es zu Unmutsäußerungen der Bevölkerung.

Lange haben die deutschen Einwanderer in Israel ihre Sprache verleugnet. Viele haben nicht mehr innerhalb ihrer Familien Deutsch gesprochen, ihren Kindern und Enkeln die frühere Muttersprache vorenthalten, eine Sprache, in der Juden über Jahrhunderte in Deutschland, Österreich-Ungarn, der
Schweiz, in Teilen Polens, der Ukraine und anderen osteuropäischer Länder eine Sprachheimat hatten, in der sie ihre Geschäfte machten, an den Universitäten unterrichteten und literarisch
brillierten. In den frühen Kibbuzim war es regelrecht verboten, deutsch zu sprechen, obwohl oder gerade weil ihre Erbauer oft zu einem großen Teil aus deutschsprachigen Ländern und
Gebieten stammten. Zum einen sollte die drakonische Maßnahme dem aus alten Büchern
wiederbelebten Neu-Hebräisch helfen, sich in der extrem multikulturellen, aus aller Welt eingewanderten, etwa zweihundert Muttersprachen sprechenden jüdischen Bevölkerung des britischen Mandatsgebiets Palästina, später des jungen Staates Israel durchzusetzen.
Zweitens galt der deutschen Sprache die tiefe Aversion der Flüchtlinge aus Hitler-Deutschland und den besetzten europäischen Ländern – die Sprache wurde absurderweise mit den Nazi-Tätern
identifiziert, obwohl diese sie weder liebten noch wirklich beherrschten. Daher war es in Israel über Jahrzehnte allgemeine Verabredung, die deutsche Sprache zu ignorieren und zu verachten. Trotz der damit verbundenen Einbußen: So konnte fast niemand mehr – auch kaum ein Fachwissenschaftler
– die Werke der Gründerväter des neuen Staates im Original lesen, denn Theodor Herzl, Moses Hess,
Nathan Birnbaum und viele führende Zionisten schrieben deutsch. In dieser Sprache verständigte sich die Szene des säkularen Zionismus, deutsch führte sie ihre Debatten und Korrespondenzen,
organisierte sie ihre Strukturen und Kongresse. Deutsch scheint auch die Sprache der gebildeten Juden im Osten gewesen zu sein: Leo Pinsker, geboren in der Wojwodschaft Lublin im östlichsten Polen und russischer Staatsbürger, verfasste 1882 sein zionistisches Grundsatzpapier „Autoemancipation. Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden“ auf
Deutsch – er sprach Russisch nur mittelmäßig, Hebräisch gar nicht.

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