Mai 10, 2019 – 5 Iyyar 5779
Der sowjetische Sieg als Tag der Befreiung

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Drei Porträts jüdischer Überlebender zum Kriegsende im Mai 1945  

Von Alexandre Sladkevich

Täglich begegnet man Dutzenden von Menschen, die einem unbekannt sind, und man ahnt nicht, wer vor einem steht oder an einem vorbeigeht und was derjenige erlebt hat. Dabei es ist eigentlich klar, dass die viel älteren Menschen unscheinbare Zeugen des Zweiten Weltkrieges sind. Diese Menschen, die nur wenigen auffallen, tragen das Leid der Kriegszeit in sich. Zeit der Angst, Schmerzen und Entbehrungen.

Mark Eisenbruch (Name geändert) lebt in Frankfurt am Main. Er ist ein Rentner, der sich von den übrigen Rentnern auf den ersten Blick nicht unterscheidet, außer in einer Sache: In dem 16-stöckigen Haus, in dem er wohnt, begrüßt er seine Nachbarn in ihren Muttersprachen. Man hört ihn fließend Deutsch, Russisch und Rumänisch sprechen. Er verrät gerne, woher er diese Sprachen kennt, verheimlicht aber dabei sein Schicksal. Er hat Angst. Seit 78 Jahren fürchtet er die Nazis. Mark ist 1923 im rumänischen Mihova, das heute zur Ukraine gehört, geboren. 1941 bis 1944 war er mit seiner ganzen Familie in einem Lager in Transnistrien interniert. „Das war das Ende dort. Fast alle Leute sind an Hunger und Typhus gestorben. Nur Wenige haben überlebt. Das waren die schlimmsten vier Jahre meines Lebens. Ich habe sie nie vergessen, so schwer es war. Dort habe ich drei Brüder verloren und viele Verwandte: Onkels, Tanten, Cousins, viele, viele ...“ Mit schwerem Herzen erinnert sich Mark.

Zu Fuß zurück nach Rumänien

1944 kam die Rote Armee und befreite die Überlebenden. Obwohl Mark körperlich und seelisch am Ende war, war er den Befreiern eine große Hilfe: Außer Jiddisch beherrschte er auch Rumänisch, Russisch und Französisch. „Diese Sprachen habe ich im Handelsgymnasium gelernt. Ich wurde als Soldat eingezogen und war als Dolmetscher bei der Infanterie tätig.“ Mark sollte Dokumente übersetzen und bei den Gefangenen dolmetschen. Als Soldat kam er nach Ungarn und Österreich. „Ich bin bis Wien gekommen und weil ich als Einziger von vier Söhnen überlebt habe, entließen die Russen mich im Herbst 1945. Aber vorher richtete meine Mutter meinetwegen ein Gesuch an Kalinin. Ich ging zu Fuß zurück, entlang der Strecke, wo wir gekämpft haben. Im April 1946 ist es mir gelungen, Rumänien zu erreichen ... Ich kann fünf Tage lang erzählen“, sagt Mark und verliert kein Wort mehr. Schmerz und Angst stehen in seinen Augen. Er fürchtet sich in die Vergangenheit zurückzublicken, aber noch mehr fürchtet er, dass die Neo-Nazis ihn aufstöbern werden. Seine Angst ist so groß, dass er sein Leben lang seine Herkunft und die Internierung im Lager auch von den Nachbarn verheimlicht.

Die ukrainischen Nachbarn machten mit

Die ebenfalls in Frankfurt am Main lebende Rachil Bubermann hat auch die Schrecken Transnistriens erlebt. Rachil wurde 1930 im ukrainischen Kruti geboren. Mit ihren ukrainischen Landesleuten lebten die Juden in friedlicher Nachbarschaft und es gab keine Vorzeichen einer drohenden Tragödie. Doch es kam der Krieg. Es scheint, dass Rachil immer noch nicht fassen kann, dass ihre netten Nachbarn plötzlich in jüdische Wohnungen eindrangen und sich ihr Hab und Gut aneigneten. Was sie aber noch mehr entsetzte, war, dass die Ukrainer beschlossen, die Juden zu vernichten, um sicher zu gehen, dass sie ihr frisch erbeutetes Eigentum behalten konnten. Dabei gingen sie zielstrebig vor. „Sie machten die rumänischen Soldaten betrunken, hoben selbst die Gruben aus und beerdigten die Menschen lebendig darin. Die Erde hob sich drei Tagen lang. Die übrigen Juden, darunter meine Mutter und ich, wurden nach Rîbnița getrieben.“ Von 1941 bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Jahre 1944 war Rachil im Ghetto von Rîbnița interniert. Der Todesmarsch dahin dauerte zwölf Tagen. „Es war im Dezember, es war eiskalt, die Menschen erfroren vor meinen Augen.“ Sie tranken Wasser aus den Pfützen, wo der zertrampelte Schnee auftaute, schliefen im Schnee. Sie ahnten nicht, dass ihre Leiden erst begonnen hatten. Eines Tages kam eine Britschka. „Ein deutscher Soldat peitschte uns, wer hinfiel, den überfuhr er mit seiner Britschka. Das ging einige Stunden so! Plötzlich kam ein anderer Deutscher in einem Fuhrwerk und vertrieb den Soldaten. Aber zwei Stunden später kam er zurück und alles fing von vorne an. Doch auch der Wagen machte kehrt und dieser Soldat wurde mitgenommen.“

Tartaren als Mörder der Juden

Dann folgte der Alltag im Ghetto. „Wir durften das Haus zwischen elf und halb zwölf verlassen, um Sachen zu tauschen und einzukaufen. Alle zwei Monate führten die Deutschen und Rumänen Erschießungen durch. Ein Oberst, der mit Antonescu verwandt war, sagte: ‚Ich werde euch bis zum Grab treiben, aber nicht ins Grab werfen‘. Weil Arbeitskräfte benötigt wurden, erschoss man gesunde und qualifizierte Menschen nicht. Ab meinem zwölften Lebensjahr arbeitete ich in einem Hospital und auch beim Laden von Obst und Gemüse, das nach Deutschland transportiert wurde“, berichtet Rachil. Sie legt eine Pause ein und erwähnt die Aprikosen. 1944 näherte sich die Rote Armee und die Nazis begannen eine Vernichtungsoperation. „In einem Gefängnis wurden die Insassen lebendig verbrannt ... Eine Einsatztruppe, die aus Tataren und anderen Verrätern bestand, marschierte ein. Die Rumänen warnten uns, dass sie uns alle töten werden. Es ist ein Wunder, dass meine Mutter und ich nicht erschossen wurden … Und nach dem Krieg wurden wir als Okkupierte beschimpft.“ Rachil kommt wieder auf den Deutschen zurück, der die Juden auf dem Weg nach Rîbnița von den Soldaten mit der Peitsche gerettet hat. Sie erwähnt auch dankbar einen anderen Deutschen, der nicht erlaubt hat, dass sie von ihrer Mutter getrennt wurde. „Dank dieser Deutschen sind meine Mutter und ich am Leben geblieben. Aber unsere eigenen Leute, diese Verräter ...“

1993 erhielt Rachil die Medaille „Veteran der Arbeit“ für ihre Arbeitsleistungen nach dem Krieg und in den 1990er Jahren übersiedelte sie nach Deutschland.

Im hohen Alter traf sie hier ihren Lebensgefährten Lew Lewinschtejn. Obwohl Lew ganz anders über die deutschen Soldaten denkt und sie als Mörder brandmarkt, streiten sie sich nie. Jeder hat seine eigenen schrecklichen Erfahrungen gemacht. Für den 1922 im ukrainischen Krementschuk geborenen Lew begann der Krieg 1941. Nach der Artilleriefachschule in Jaroslawl kam er als Hauptfeldwebel an die Front. „Ich nahm im 934. Artillerieregiment der 26. Sonderschützenbrigade auf dem Weg nach Moschajsk an meinem ersten Kampf teil. Wir sollten die Artillerie unterstützen. Meine Aufgabe bestand darin, die Feuerrichtung zu korrigieren. Ich war am Geschütz mit einem Fernglas in der Hand und zeigte die Feuerrichtung. Bei Ostaschkowo wurde ich verwundet, ein Finger wurde mir abgerissen. Nach dem Hospital in Koltschugino wurde ich an die Front geschickt, nach Rschew an der Wolga. Bei Überqueren des Flusses wurde ich von einem Geschosssplitter an der Brust verletzt.“ Lew verbrachte sechs Monaten im Hospital in Tscheljabinsk und 1943 bekam er Urlaub. Er fuhr nach Andischan seine Eltern zu besuchen und wurde dort als Kriegsinstrukteur an eine Schule abkommandiert. Den Sieg erlebte er dort. „1946 wurde ich Oberleutnant der Reserve“, fügt Lew hinzu. Er holt seinen Orden des „Großen Vaterländischen Krieges“ aus einer Schublade und gedenkt der gefallenen Kameraden und der Schrecken des Krieges. Er versteht, warum Rachil manchen deutschen Soldaten dankbar ist. Er jedoch würde Worte des Dankes nicht über die Lippen bringen.

Diese Menschen eint das gleiche Schicksal, das Kriegsschicksal, aber in verschiedenen Facetten. Würde man alle Einzelheiten aufführen, ergäbe sich ein Buch des endlosen Albtraums. Dieser Albtraum vereint sie in einer Gruppe, die immer kleiner wird und bald ganz verschwindet. Bleiben wird nur die Erinnerung, aus der man lernen sollte, solches nie wieder zuzulassen.

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