Januar 6, 2017 – 8 Tevet 5777
Das vergessene Lager: Maly Trostenez.

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Die Erinnerung an das größte Vernichtungslager in der besetzten Sowjetunion rückt nach 70 Jahren in den Fokus der Deutschen.  

Von Dmitri Stratievski

Die Deutsche Welle sprach 2013 von dem „späten Gedenken“. Die ZEIT schrieb 2014: „Es ist nahezu unbekannt“. Am Rand von Minsk liegt ein Ort des Schreckens, dessen Name einem durchschnittlichen Deutschen nichts sagt: Maly Trostenez, im Krieg ein Dorf. Neben diesem Dorf befand sich 1942-1944 eine Hinrichtungsstätte der Nazis. Manche Quellen nennen sechsstellige Opferzahlen. In der deutschen Erinnerungskultur fand Trostenez ein halbes Jahrhundert lang keinen Platz. Erst 1995 wurde die 1967 in Berlin aufgestellte Gedenktafel, am Platz der einstigen Sammelstelle für den Transport der Juden in den Tod, durch ein Schild „Trostenez“ erweitert. Die ersten Erwähnungen dieses Vernichtungslages in der deutschen Presse sind in den 2000er Jahren datiert.

Am 28. Juni 1941 hat die Wehrmacht Minsk eingenommen. Bereits am 19. Juli 1941 gründete die deutsche Besatzungsmacht das erste jüdische Ghetto in der Stadt. Auf einer Fläche von zwei Quadratkilometern wurden etwa 60.000 Menschen eingesperrt. Im September 1941 traf die NS-Führungsriege die Entscheidung, Minsk zu einem Ziel der Deportationen von Juden aus Europa, in erster Linie aus Deutschland, zu machen. Dafür brauchten die Nazis Platz.

Anfang November 1941 erschossen die Angehörigen der Sicherheits- und Ordnungspolizei (Deutsche und einheimische Kollaborateure) zwischen 12.000 und 14.000 Minsker Juden. Die mittel- und westeuropäischen Juden sollten ins Ghetto nachrücken. Im Weißrussischen Nationalarchiv sind Listen aufbewahrt, die eine skrupellose Arbeit der Todesmaschinerie schildern. Die Züge aus dem Westen kamen fast täglich an:

11. November 1941: Ankunft von ca. 1.000 Juden aus Hamburg
15. November: ein Transport mit 1.000 Personen aus Düsseldorf, darunter 244 aus Wuppertal, 128 aus Essen.
17. November: 1.050 Juden aus Frankfurt am Main.
20. November: ein Zug aus Brünn mit 1.000 Personen.
22. November: 500 Hamburger und 440 Bremer Juden…

In einem überfüllten Raum vegetierten die Menschen, die ganz unterschiedlich sozialisiert waren. Riva Fridmann, in Minsk geborene weißrussische Jüdin, überlebte im Ghetto. Sie erinnerte sich in den 1990er Jahren: „Man spricht heute viel darüber, wir hätten schlechte Kontakte zu den deutschen Juden gehabt. Das stimmt nicht. Wir halfen diesen Armen. Sie waren für uns wie die Menschen aus einer anderen Welt: gut angekleidet, gut aussehend. Sie waren meistens für die körperliche Arbeit nicht geeignet, sie waren aus einer andreren Schicht, während wir Sowjetmenschen immer hart gearbeitet hatten. Wir halfen diesen Menschen“.

Im März 1942, das heißt nach dem Beschluss der Wannsee-Konferenz über die weitere Fortsetzung des Holocausts, besuchten Minsk kurz nacheinander Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann. Die hochrangigen Nazis drängten auf Errichtung einer großen Haft- und Vernichtungsstätte für die Juden. „Sonst sind wir hinter dem Zeitplan“, notierte ein deutscher Offizier die Aussage Heydrichs auf einer Sitzung. Einen Monat später wurde auf dem Gelände des Guts des SD-Chefs vom besetzten Minsk nahe dem Dorf Maly Trostenez mit 55 Bauernhäusern ein 200 Hektar großes Lager gegründet. Die Deutschen schafften bis 1943 die ganze dazugehörige Infrastruktur: weißrussische Zwangsarbeiter bauten eine Straße, ein Kraftwerk sowie die Wohn- und Gewerbebaracken. Im August 1942 wurde eine neue Bahnstation eingerichtet, damit die Transporte aus West- und Mitteleuropa ohne Halt in Minsk direkt nach Trostenez ankommen konnten. Für die Bewachung des Lagers waren die einheimischen Kollaborateure zuständig. Neben dem Lager stationierten drei weitere Garnisonen und eine Flak-Einheit.

Trotz einer Sperre wussten die Einheimischen spätestens 1943 über die Massenvernichtungsaktionen in Trostenez. Mehrere Zeitzeugen berichteten von Schüssen und Salven aus dem benachbarten Wald. Wera Swiridowitsch, damals die Bewohnerin des unweit gelegenen Dorfes Bolschoj Trostenez, hinterließ schlüssige Erinnerungen über das deutsche Kriegsverbrechen: „Die Menschen verließen den Zug an einer Bahnstation. Danach wurden sie in den Wald gebracht und dort ermordet. Ich beobachtete einige Male den Ausstieg dieser Menschen am Bahnsteig, aus der Ferne. Manchmal kam ich näher. Das war eine gemischte Menschenmenge, nicht nur Alte, sondern auch ganz junge Frauen und Kinder im verschiedenen Alter. Sie sahen ungewöhnlich aus, irgendwie ausländisch, und sprachen eine Fremdsprache. Gelegentlich waren auch unsere Landsleute dabei, sie sprachen Russisch. Ihre Wertsachen und das ganze Gepäck wurden weggenommen. Die Abgabe wurde quittiert. Vielleicht machten das die Deutschen mit Absicht, um den Eindruck bei den Menschen zu erwecken, sie sollen umgesiedelt werden. Ich erinnere mich recht gut an ein vier- oder fünfjähriges Mädchen. Es trug das rote Kleid und hatte große Haarschleifen. Das Mädchen sprach mit seiner Mutter und lächelte. Der Sommertag war sonnig. Die Menschen gingen in den Tod, wussten aber nicht Bescheid. Manche fragten: Wie weit ist es bis Blagowschtschina?“

Bis zur Rückeroberung von Minsk am 3. Juli 1944 wurden in Maly Trostenez sowie in den benachbarten Ortschaften Blagowschtschina, Schaschkowka und Saraj zwischen 60.000 (deutsche Forschungen) und 206.500 Menschen (sowjetische bzw. weißrussische Angaben) durch Erschießen und Vergasen ermordet. Die meisten Opfer waren Juden aus dem besetzten Gebiet der Sowjetunion, aus Deutschland, Österreich und Tschechien sowie sowjetische Kriegsgefangene, Partisanen, Untergrundkämpfer und „Sabotage-Verdächtige“. Die Feststellung der genauen Zahl und Identität der Ermordeten wird dadurch erschwert, dass bereits im Oktober-Dezember 1943 ein RSHA-Sonderkommando „1005-Mitte“ vor Ort tätig war und viele Spuren des Verbrechens beseitigte. Die Historiker gehen von mindestens 20.000 Opfern aus dem deutsch- und tschechischsprachigen Raum aus. Allein im Juli 1942 wurden in Maly Trostenez 3.000 Menschen erschossen, in bis in die 1990er Jahren geheim gehaltenen Akten einer sowjetischen Ermittlungskommission als „jüdische Bürger des Deutschen Reiches“ bezeichnet. Von den sowjetischen Opfern kennt man gegenwärtig die Namen von nur 600 Personen.

Straffreiheit für die Täter
Viele Täter von Maly Trostenez sind der rechtlichen Verantwortung entgangen, andere wurden zu milde bestraft. Der SS-Unterscharführer Heinrich Eiche, der Lagerkommandant von 1942-1943, floh vermutlich nach Argentinien und galt für die westdeutsche Justiz als vermisst. Sein Nachfolger, der SS-Obersturmführer Gerhard Maiwald, lebte nach dem Krieg in der Bundesrepublik. Die Ermittlungen gegen ihn wurden 1970 wegen „Beweismangels“ eingestellt. 1994 nahm die Staatsanwaltschaft von Saarbrücken die Ermittlungen gegen Maiwald wieder auf und setzte sich mit der weißrussischen Gedenkstiftung „Trostenez“ in Kontakt. Zu diesem Zeitpunkt war Maiwald schon tot. Der SS-Obersturmführer Georg Heuser leitete die Abteilung IV der Sicherheitspolizei in Minsk und nahm den Zeugen zufolge an den Erschießungen persönlich teil. Darüber hinaus ordnete er Hinrichtungen an. Sein Kommando verwischte die Spuren in Trostenez. Nach dem Krieg übernahm Heuser die Leitung des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz. 1962 wurde Heuser zu 15 Jahre Haft wegen Mordes und Beihilfe zum Mord verurteilt. 1969 wurde er aus der Haft entlassen.

Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher haben die sowjetischen Ankläger Maly Trostenez außer Acht gelassen. Im Gesamtkontext der Vernichtungspolitik NS-Deutschlands gehörten nur die Begriffe „Sowjetzivilisten“ oder „Sowjetbürger“ zum offiziellen Sprachgebrauch. Der Holocaust wurde fußnotenartig behandelt. Im Zuge der Entstalinisierung in der Sowjetunion kam es kurzzeitig zum Umdenken eigener Geschichte. Die neue Geschäftspolitik wurde allerdings nicht folgerichtig umgesetzt und schnell auf Eis gelegt.

Die Sowjets fanden die Nennung von Juden „überflüssig“
1963 wurde in Maly Trostenez ein Denkmal errichtet. Ein sowjetischer Parteifunktionär fand im Gespräch mit Leonid Lewin, einem weißrussischen Star-Architekten jüdischer Herkunft, der die Gedenkstätte in Chatyn entwarf, die Nennung von Juden „überflüssig“. Im Ergebnis war im Text auf der Tafel erneut von „Sowjetbürgern“ die Rede. 1965 wurde in einem Minsker Verlag der Sammelband „Verbrechen der deutsch-faschistischen Besatzer in Weißrussland 1941-1944“ veröffentlicht, wo Maly Trostenez zum ersten Mal als „Lager, in dem 200.500 Menschen vernichtet wurden, darunter Sowjetsoldaten, Partisanen, sowjetische Zivilisten und Juden“ erwähnt wurde. In den 1980er Jahren erschien die erste Broschüre darüber. Kusma Kozak, der weißrussische Historiker und der Leiter der Geschichtswerkstatt in Minsk, kritisiert die Verdrängungsstrategie der Sowjetführung: „Holocaust, Massentod von sowjetischen Kriegsgefangenen, zivile Zwangsarbeiter… Diese Kapitel des Krieges passten nicht ins Bild. Sie waren unerwünscht und nicht thematisiert“. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet dieser Erinnerungsort wieder in Vergessenheit. Auf dem Gelände bildete sich eine illegale Mülldeponie. Mehrere Teilbereiche des Ortes wurden nach dem Bau einer Schnellstraße Minsk-Mogilew für die Besucher unzugänglich. Von der weißrussischen Regierung 1994 und 1999 beschlossene Konzepte zur Entwicklung einer Gedenkstätte Trostenez blieben nur auf dem Papier. 2008 entflammte eine neue Diskussion über die Gestaltung des Geländes. Der Hauptstreitpunkt bestand in der angemessenen Würdigung aller Verstorbenen. Weißrussische, deutsche und israelische Vertreter fanden einen Kompromiss. Im Juni 2015 wurde die neue Gedenkstätte eröffnet.

In Deutschland ist der Prozess der Anerkennung von Maly Trosnetez im öffentlichen Bewusstsein als Hinrichtungsort noch immer nicht vollendet. Als Erste recherchierten darüber der Journalist Paul Kohl und der Historiker Christian Gerlach. Mehrere Weißrussland-Reisen von Kohl gipfelten im Verfassen des Buches „Das Vernichtungslager Trostenez“, Dortmund 2003. Es folgten zwei internationale Konferenzen in Minsk und Wien 2009 und 2013. Im November 2016 wurde in Hamburg eine Wanderausstellung zu Maly Trostenez eröffnet, die später mehrere deutsche und weißrussische Städte besuchen soll. Ist dies nun endlich der Anfang eines späten Gedenkens?

Die Erinnerung an das größte Vernichtungslager in der besetzten Sowjetunion rückt nach 70 Jahren in den Fokus der Deutschen.

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