Juli 8, 2016 – 2 Tammuz 5776
Brexit dank Deutschland

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Von Attila Teri

Brexit hier, Brexit da, Brexit überall! Und ich sitze wieder Mal zwischen allen Stühlen, wie ich in den letzten Tagen feststellen durfte. Wie immer häufiger, wenn es um die „Meinung des Volkes“ oder um „demokratische“ Debatten und Diskussionen geht. Deutschland beherrschen nur noch zwei Farben: Schwarz und Weiß. Dazwischen gibt es nichts mehr.

Die Farbenblindheit scheint die neue Volkskrankheit zu sein. Mit allen Nebenwirkungen. Entweder jubelt man über die Entscheidung der Briten oder beschimpft sie nach bestem (Un)Wissen und Gewissen(losigkeit). Die Eindimensionalität beherrscht soziale Medien, Politiker und Journalisten – und geht mir persönlich gehörig auf meine schon überstrapazierten Nerven. Wie meistens, gibt es weder die absolute Wahrheit, noch die „totale“ Lösung. Aber nach der schreien fast alle.

Als EU-Bürger habe ich jedoch eine ganz persönliche, eigene Meinung, auch wenn ich damit fast alle in meiner Umgebung auf die Palme bringe. Gern geschehen!
Aber zurück zum Kern der Sache. Bei diversen Diskussionen äußerte ich meine Gedanken. Es kam bei den Antworten, ein recht buntes Potpourri heraus. Ein paar Beispiele gefälligst?
Bitteschön:

„Die Schweizer fahren jedenfalls sehr gut mit direkten Volksentscheiden und mit ihrer Nicht-EU-Mitgliedschaft. Die Schweiz steht hervorragend da und hat eigene Verträge mit der zentralistisch regierten EU ausgehandelt.“

„In der Baracke, in Ungarn, war es doch besser – oder, Attila? Die Führung wusste schon, warum das dumme Volk nicht an den Entscheidungen beteiligt werden sollte. Bewahre dir deine elitäre Gesinnung, Demokratie ist nur gut, wenn sie deinen Vorstellungen entspricht.“

„Was soll die Meckerei, Attila? Du bist doch ein Freund der EU-Links-Antisemiten-Diktatur, oder habe ich da was falsch verstanden? Das ganze System muss weg und du verteidigst es nach dem Brexit – total schizophren. Ich werde das nicht mit dir diskutieren, damit musst du selbst klarkommen und langsam aufwachen, du kannst dir nicht die Dinge aussuchen...der Fehler liegt im System. Eine EU-light-linksliberal gibt es nicht“.

Nun der Reihe nach. Für mich ist das Argument, „in der Schweiz funktioniert es doch toll“, gar keins. Ohne den Eidgenossen zu nahe treten zu wollen, aber: Was die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen beschließen, tangiert die Welt nicht im geringsten, hat außerhalb des Landes kaum Auswirkungen und ist als Vergleich denkbar ungeeignet. Genauso wenig, wie zu behaupten, diese direkte Demokratie habe die Schweiz seit 700 Jahren vor Kriegen bewahrt. Vielmehr garantiert die geographische Lage bis heute, dass niemand auf die Idee kommt das Land dieses eigenartigen und dennoch liebenswerten Bergvolkes erobern zu wollen. Ihre Berge sorgen für einen natürlichen Schutz. Im Gegensatz zum Beispiel zu Ungarn. Meine ehemalige Heimat ist so flach, dass sie im Laufe der Geschichte leicht von jedem überrannt und besetzt werden konnte, der plötzlich auf den Geschmack von Paprika kam. Mit Demokratie – in welcher Form auch immer – hat das nichts zu tun.

Außerdem – wie hoch ist die Wahlbeteiligung bei den Volksentscheiden in der Regel? Zwischen 50 und 60 Prozent. Und das soll dann bindend über die Zukunft entscheiden? Auch beim Brexit gingen fast 30 Prozent der Menschen nicht zur Wahl. Viele verlangen nun auch hierzulande nach der direkten Demokratie, vergessen jedoch dabei, dass zum Beispiel bei den letzten Bundestagswahlen gerade mal 71,5 Prozent der Bürger ihren plattgesessenen Hintern zu den Urnen schleppten. Das nur mit dem allzeit beliebten Argument der Politikverdrossenheit zu bergründen, ist mir zu einfach. Es ist eben einfacher am Stammtisch herumzupoltern, als Verantwortung zu übernehmen.

Über meine Haltung zur Diktatur sei nur so viel angemerkt: Ich bin mit meiner Mutter und zwei Koffern aus Ungarn vor Kommunisten in den Westen geflohen. Mir zu unterstellen, ich sei ein Fan einer Diktatur, ist an sich schon eine persönliche Beleidigung, wenn nicht schon Diffamierung! Ohne Wende hätte ich meine Heimat nie wieder betreten dürfen, galt dort als Landesverräter und wurde gar in Deutschland vom damaligen kommunistischen ungarischen Geheimdienst verfolgt. Gerade ich ließ alles hinter mir für die verheißungsvolle Freiheit, die ich in Bundesrepublik Deutschland tatsächlich fand, übrigens schon damals als Teil der EG/EU.

Auch als überzeugter Demokrat zeigt die Abstimmung für mich, dass das Wahlvolk nicht geeignet ist, Entscheidungen dieser Tragweite zu treffen. Dafür sind die Menschen ganz einfach zu dämlich, mit Verlaub! Ich habe einfach keine Lust darauf, dass Mitbürger/innen mit Hauptschulabschluss, wenn überhaupt, über die Zukunft der Welt entscheiden, geschweige denn, über meine! Ich bin ein Verfechter der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Mir reicht es vollkommen, wenn wir alle 4 Jahre über die Arbeit unserer Volkvertreter befinden. Auch weil den meisten Wählern das nötige Wissen, Interesse und Überblick fehlen – sie haben oft auch schlicht nicht die Zeit sich so ausführlich wie die Politprofis mit Gesetzestexten zu befassen. Politik ist ein viel zu ernstes und komplexes Geschäft, um sie von Amateuren ausüben zu lassen. Aber sei‘s drum – das ist eben Demokratie.

Ob nun alle Politprofis das Format dazu haben, steht auf einem anderen Blatt. Das weiß ich auch. Aber was ist schon perfekt? Außer dem lieben Gott, an den ich nicht glaube? Der Mensch ist es sicher nicht. Genauso wenig die EU, in der die Abstimmung der Briten wohl für einen gehörigen Schock sorgt – ob für eine heilsame oder eine lähmende, werden wir sehen.

Steinmeier sagte bei „Was nun?“ im ZDF: „Ich habe heute das erste Mal doch gefühlt, dass die 27 Mitglieder, die neben dem britischen Vertreter am Tisch saßen, in die Hand geschworen haben, wir lassen die Dinge nicht wie sie sind. Wir werden uns bemühen, dieses Europa wieder so stark zu machen, dass es wieder attraktiv wird für die Bürger.“ EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) mahnte Großbritannien zur Eile. Eine lange Hängepartie führe zu noch mehr Verunsicherung und gefährde dadurch Jobs. „Deshalb erwarten wir, dass die britische Regierung jetzt liefert.“ Manfred Weber (CSU), Chef der konservativen EVP-Fraktion meinte: „Die beginnende Verzögerungstaktik in London ist inakzeptabel.“ Weber plädierte für einen Austritt innerhalb eines Jahres. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sagte: „Es wird niemand die Chance haben, auf Zeit zu spielen. Die Wirtschaft wird schnelle Klarheit einfordern.“

Erwachsene Politiker sind demnach auf dem Stand eines 5-jährigen Kindes. Erst wenn es sich schon auf den heißen Herd gesetzt hat, merkt es, dass sein Arsch verbrannt ist! Warum immer erst dann? Mal sehen, ob die Brandsalbe noch hilft, die lieben Kinder daraus gelernt haben oder lieber das ganze Haus abfackeln. Dies gilt jedoch auch für uns Bürger.

Ob EU-Gegner oder -Befürworter, alle haben anscheinend die Vergangenheit schon vergessen. Mal abgesehen von den unzähligen Kriegen, die unseren Kontinent über Jahrtausende heimsuchten – wie war es denn, als wir noch stundenlang bei Grenzkontrollen im Stau feststeckten? Wie war es, als sich niemand in Europa einfach seinen Wohnort oder Arbeitsplatz wählen durfte? Die unterschiedlichen Währungen den Alltag erschwerten? Als es noch für Normalbürger kaum möglich war im Ausland zu studieren? Vergessen scheinen ebenfalls die Mauer, die Todeszone, die Selbstschussanlagen, die Stasi, der Kalte Krieg – wenn manche Mitmenschen heute die EU absurderweise mit der DDR oder der UdSSR vergleichen.

Wir sollten die EU tatsächlich als ein Kind betrachten. Ein Kind mit jetzt nur noch 27 Müttern und Vätern. Wann oder wo hat es das denn vorher einmal auf der Welt gegeben, dass sich 27 Staaten freiwillig zusammenschließen? Ohne Zwang, ohne Besatzung, ohne Krieg? Noch nie! So ist es auch kein Wunder, wenn dieses gemeinsame Kind es nicht schafft, von heute auf morgen auf alle Herausforderungen die richtigen Lösungen zu finden. Kinder müssen nun mal erst gehen und auch aus ihren Fehlern lernen. Wenn sie die nötige Zeit, Vertrauen und Rückhalt dafür nicht bekommen, werden sie nie erwachsen und sie werden scheitern. Wollen wir das? Ich sicher nicht! Mein Herz schlägt für Europa. Sogar dann, wenn ich als Jude mit der Haltung der EU zu Israel hart ins Gericht gehe und gegen Antisemitismus kämpfe. Die EU ist unser Kind und geht uns alle an! Mag sein, dass es schon am Rande steht und wankt, es ist aber noch nicht in den Brunnen gefallen. Ob es hineinfällt, hereingestoßen wird, oder seinen Weg weitergehen kann, entscheiden wir alle! Wie heißt es doch so zutreffend? „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient!“ Und so hoffe ich inständig, dass wir für unsere Zukunft alle gemeinsam lernfähig sind, mit- statt gegeneinander arbeiten, ohne Alleingänge a la Merkel, Orbán oder Großbritannien. Frei vom hohlen Geschwätz von Politikern wie Schulz, Seehofer, Steinmeier und Gabriel, um nur einige zu nennen, das genau dahinführt, wo wir nicht sein wollen! Ich erwarte jedoch ebenfalls von den angeblich ach so mündigen Bürgern, dass sie nicht mehr jedem dahergelaufenen Rattenfänger folgen, der ihnen verspricht, ohne eigene Arbeit, Einsatz und Opfer, über Wasser gehen zu können! Wenn schon, denn schon!

Nur behutsames, überlegtes und bestimmtes Handeln darf unsere Devise sein, bevor tatsächlich nichts mehr zu retten ist und Europa erneut in Kleinstaatlichkeit zerfällt, die nur Kriege, Zerstörung und Verderben gebracht hat! Die Folge wäre weit mehr als „nur“ Brexit! Es wäre ein Exodus der Freiheit und Demokratie.

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