Zum 75. Jahrestag des Massakers  

Von Michael Groys

Bevor ich diesen Artikel schrieb, las ich unzählige Male ein Gedicht, dessen Wirkungskraft für viele Menschen erst dieses unglaubliche Verbrechen etwas zugänglicher machte – mich eingeschlossen. „Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal“, ist der erste Satz dieses legendären Gedichtes des russischen Dichters Ewgenij Evtuschenko, ins Deutsche übersetzt von Paul Celan, der im Jahre 1961 die gesamte Sowjetunion erschütterte und dieses einzigartige Verbrechen der Deutschen an den Juden in Erinnerung gerufen hatte.

Dort in dieser Schlucht bei Kiew, wo die Deutschen 33.771 Kiewer Juden ermordeten, stand lange kein Denkmal. Die sowjetische Propaganda hatte lediglich eine Tafel angebracht, an der an tausende sowjetische Bürgerinnen und Bürger erinnert werden sollte. Der sowjetische Schriftsteller und Dissident Nekrasov hatte in Bezug auf Babij Jar sehr prägend formuliert: „Ja, in Babij Jar wurden nicht nur Juden erschossen, aber lediglich die Juden wurden erschossen, weil sie Juden waren.“ In den nächsten Jahren bis zur Befreiung Kiews im Jahr 1943 fanden viele weitere Erschießungen statt. Ewgenij Evtuschenko und Dmitri Shestakovitch setzten mit dem oben erwähnten Gedicht ein unsterbliches literarisches und mit der 13. Symphonie ein musikalisches Denkmal an ein Verbrechen, welches sich am 28. September dieses Jahres zum 75. Mal jährt.

Babij Jar war und bleibt nach wie vor ein Synonym für die deutsche Barbarei in der Ukraine unter der Beteiligung der SS, dem Mitwissen der Wehrmacht und aktiven Teilhabe ukrainischer Nationalisten. Die Beteiligung der ethnischen Ukrainer wird sicherlich gerade in diesem Jahr und vor dem Hintergrund der in der Ukraine vorangetriebenen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte besonders relevant sein. Die ukrainische Regierung veranstaltet eine offizielle staatliche Gedenkveranstaltung zum Jahrestag. Die Rolle der ukrainischen Milizen in der NS-Zeit wird wohl kaum zu beschönigen sein und sollte nicht als Randnotiz dieser Tragödie abgetan werden.

Was geschah eigentlich an diesen beiden Tagen in der Schlucht bei Kiew und wer war an diesem Verbrechen beteiligt?
Schon nach einigen Monaten des Russlandfeldzuges der Wehrmacht, genannt „Unternehmen Barbarossa“, wütete der Krieg gegen die vermeintlichen „Untermenschen“. Dieser Krieg beinhaltete neben militärischen Zielen auch ganz andere wesentliche, wenn nicht viele wichtigere, Aufgaben und Ziele für die Nazis, und zwar die Versklavung ganzer Völker und vor allem die Vernichtung der Juden. Die Mission der sogenannten deutschen „Herrenrasse“ war es, die Juden und andere als rassisch minderwertig angesehenen Menschen wie „Ungeziefer“ zu vernichten. Eine der ersten technischen Formen dieser Vernichtung waren massenhafte Erschießungen wie die in der Schlucht von Babij Jar, der rund 33.000 Juden zu Opfer fielen.

Der Ablauf dieses zweitägigen Verbrechens ist im Wesentlichen schnell beschrieben. Die übriggebliebenen Juden von Kiew, zumeist Alte, Kranke, Frauen und Kinder, sollten sich um 8 Uhr morgens an einer bestimmten Stelle zusammenfinden und zum alten Friedhof begleitet werden. Die NS-Propaganda sprach von einer Umsiedlung als Konsequenz für vermeintliche von Juden organisierten Sprengstoffanschläge und Angriffe gegen deutsche Truppen. Es sollte also eine Art Vergeltung suggeriert werden. Diesem unsäglichen Befehlt hatten deutlich mehr Folge geleistet als die Nazis es erwarteten. Angekommen an der Schlucht, welche 2,5 Kilometer lang und bis zu 25 m tief war, mussten sich die Menschen in Gruppen von je 30-40 Menschen ausziehen und wurden mit einem Genickschuss ermordet. Sie fielen in die Schlucht, welche sich zunehmend mit Leichen füllte. Zeugen berichteten über den unglaublichen Schrecken vieler Menschen in den letzten Minuten ihres Lebens und in Angesicht der vielen Leichen. Für die sonst so „mutigen“ deutschen Krieger war dieser Anblick offensichtlich ebenfalls schwer erträglich und diese Mordarbeit psychisch sehr belastend. Das Rest-Gewissen versuchten die Mörder wohl mit Alkohol zu betäuben. Dies legt jedenfalls der im Archivmaterial des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C der SS dokumentierte ungewöhnlich hohe Alkoholkonsum nahe.

An dieser Aktion beteiligten sich nicht nur die 150 SS- und SD-Schergen, sondern auch ukrainische Milizen. Die Deutschen konnten auf Grundlage eines unerträglichen Antisemitismus in der Ukraine mit starker Unterstützung rechnen, wie bereits in den anderen Orten, z.B. beim Massaker von Lviv (Lemberg) in der Westukraine. Dieses Massaker wird den ukrainischen Nationalisten angelastet und noch vor der Ankunft der SS hat die Vernichtung ihren Lauf genommen!

Im Reichssicherheitshauptamt wurde im Behördendeutsch mitgeteilt, dass auch die Wehrmacht diese Maßnahmen begrüße, was dafür spricht, dass der Mythos der nichtwissenden und nichtsahnenden Wehrmacht eine Lüge ist. Dies hatte der Historiker Norbert Frei belegt und damit Jahrzehnte später eine Debatte in der modernen Bundesrepublik ausgelöst.

Der oben schrecklich kurze beschriebene Ablauf war für die Opfer von Babij Jar eine gefühlte Ewigkeit. Es spielten sich unmenschliche Szenen ab, bei denen Säuglinge den Müttern entrissen und Kinder der Ermordung ihrer Eltern beiwohnen mussten. Die rabbinischen Gesänge wurden in diesen beiden Tagen übertönt von den immer und immer wieder schießenden Gewehren. Die Täter berichteten bei den Nürnberger Prozessen in den Folgejahren von keinem Widerstand seitens der Juden und betonten nochmals ihr Mitleid mit der „schwierigen Arbeit“ der deutschen Soldaten an den Rampen. Einsicht in die Schändlichkeit ihres Tuns konnte man von solchen Mördern nicht erwarten – denn die Beteiligten waren eher stolz als einsichtig. Sie meinten nämlich mit der Ermordung Zehntausender einem „höheren Zweck“ zu dienen.

Umso seltsamer war es, dass die SS und die Wehrmacht im Jahre 1943 alle Spuren dieses Verbrechen zu beseitigen versuchten. Sie ahnten offensichtlich, dass ihr „heiliger Dienst“ in den Augen der zivilisierten Menschheit nicht heilig, sondern einfach ein unsägliches Verbrechen war. Angesichts des Vormarsches der Roten Armee wurden die Leichen von Babij Jar wieder ausgegraben und von KZ-Häftlingen verbrannt. Anschließend wurden auch diese Häftlinge als Mitwisser erschossen.

Was bedeutet Babij Jar für uns heute?
In Babij Jar stehen heute verschiedene Denkmäler. Eines wurde im Jahre 1991 kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion errichtet. Dieses Denkmal in Form einer Menorah soll an die Vernichtung der Kiewer Juden erinnern. Sie soll an ein Verbrechen erinnern, von dem zu lange zu wenige Menschen wussten. Viele versuchten seitdem dieses Verbrechen zu relativieren und damit die Opfer nochmal einmal zu Opfern zu machen. Ohne Evtuschenko, Shestakovitsch, Nekrasov und vieler anderer Mutiger hätte die Welt wohl nur am Rande von diesem grauenhaften Massaker erfahren.

Heute sind keine Schüsse mehr an der Schlucht zu hören. Es ist still, ganz still. Doch diese vermeintliche Stille ist ein ewiger Schrei der Ungerechtigkeit. Es ist ein niemals endender Schmerz. Diese Schlucht ist eine niemals heilende offene Wunde im Körper des jüdischen Volkes.

GROSSES ZITAT

„Ja, in Babij Jar wurden nicht nur Juden erschossen, aber lediglich die Juden wurden erschossen, weil sie Juden waren.“

Die Juden wurden manches Mal schon der Ankunft der SS ermordet – von den Ukrainern.

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