April 3, 2017 – 7 Nisan 5777
Als Juden noch durch Gaza bummelten

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In den 1970er und 80er Jahren gehörten Juden zum Straßenbild von Gaza  

Von Nobert Nathan Jessen

Israelis kaufen mal schnell Obst und Gemüse bei „palästinensischen“ Händlern in Kalkilia ein. Oder in Tulkarem. Oder sogar in Gaza? Sie springen auf einen schnellen Hamburger oder Kebab von Jerusalem nach Bethlehem. Reparaturen israelischer Kraftfahrzeuge in „palästinensischen“ Werkstätten, alle hebräisch beschildert und um die Hälfte preiswerter. Ohne Kontrollen, Straßensperren oder Warnschilder… Klingt wie eine illusionistisch verzerrte Zukunftsvision? Ganz im Gegenteil. Es sind Erinnerungen. Es war einmal – in einer Vergangenheit, mehr jüngst als fern.

Vor der ersten Intifada gehörten Israelis, die in Shopping-Trance zwischen Orangen- und Zucchini-Pyramiden oder Möbel-Garnituren im Louis-XIV-Stil schlendern, zum Alltag der „palästinensischen“ Ortschaften nahe der Grünen Linie. Die sollte damals – ohne Sperranlagen und Straßenschranken – langsam in Vergessenheit geraten. Alltäglich waren aber auch „Palästinenser“ in Bney Brak oder Haifa, die mit israelischen Gebrauchtwagenhändlern feilschten.

Sonnenbaden auf dem Sinai
Unvergesslich die Szene auf der Rückfahrt vom Sonnenbaden an den Palmstränden von El Arisch im Nord-Sinai (genau, das ist der ehemalige Strandbadeort im Nord-Sinai, aus dem die koptischen Bewohner in den letzten Wochen zuhauf vor dem Islamischen Staat flüchten – aber ja doch, die ganze Halbinsel war von 1967 bis 1982 israelisch verwaltet). Beim Zwischentanken in Chan Junis (genau, das liegt da, wo die Hamas heute ihre Ausbildungslager hat): „Are these oranges for juice?“ fragte jemand den Obsthändler am Straßenrand – zugegebenermaßen mit starkem deutschen Akzent. Die Antwort kam mit arabischer Färbung: „Of course for Jews, for Palestinians too, for everybody...“.

Jerusalem war schon damals ein Dorf, in dem Tel Aviver nach 21.00 Uhr von klaustrophobischen Anfällen heimgesucht wurden. Außer einer (in Zahlen 1!) fensterlosen Bar im Zentrum, deren Adresse unter Lynch-Gefahr nicht an Tel Aviver verraten werden durfte, waren die dort üblichen Kioske oder Fenster-Theken um diese Zeit schon geschlossen. Weshalb die Tel Aviver Philharmoniker nach ihren Konzerten noch schnell auf einen Happen Frischgebackenes zum „Pitzza“-Bäcker in die Altstadt sprangen, zu dem mit dem 24-Stunden-Holzfeuer. Leere Gassen. Kein Polizist in Uniform weit und breit. Und die Philharmoniker im Frack. Zum Dank spielte ein Geiger eines Abends auch mal ein paar Takte aus Inti Oumri von Umm-Kulthum.

Nach der ersten Intifada
Selbst nach der ersten Intifada waren die Shopping-Touren nicht ganz zu stoppen. Geschäfte am Straßenrand lockten weiter Israelis an. In die Dörfer trauten sich nur noch die ganz verwegenen. Ein Werkstatt-Besitzer stellte bei Kalkilia ein Riesenschild mit Pfeil auf: „Mossach! Nur 200 Meter.“ Wie eine Paraphrase auf den Anwerbungsslogan, der neue Siedler anlocken sollte: Nur 5 Minuten von Kfar Saba!

Bis dann nach der zweiten Intifada die Sperranlagen mit dem Selbstmord-Terror wuchsen. Schnell in die Höhe, aber nur langsam in die Breite. Kalkilia lag plötzlich auf drei Seiten hinter Stacheldraht. Nur die östliche Seite hat eine enge Zufahrt, die für Israelis ohne Sondererlaubnis nicht passierbar ist. Die ehemalige Marktstraße, direkt hinter der westlichen Sperranlage, die hier als Acht-Meter-Mauer mit Wachtürmen lange Schatten wirft, liegt verwaist. Die Schilder mit den hebräischen Aufschriften verrosten und verblassen. Tristesse pur.

Doch nicht das Ende aller israelisch-„palästinensischen“ Schnäppchenwirtschaft
An der Kreuzung bei Biddya hinter der Siedlungsstadt Ariel, von Israel aus mit dem Auto (fast) ohne Durchquerung „palästinensischer“ Dörfer erreichbar, entwickelte sich ein Schabbat-Markt. Die Autos mit den gelben israelischen Nummern stauten sich am Ruhetag vor Biddya. Obst und Gemüse gab es nur noch am Rande, dafür übernahm eine andere Ware die Lock-Funktion. Mit Spar-/Gewinn-Margen so groß wie das Produkt selbst: Möbel. Vom King-Size-Bett über Sitzgarnituren bis zur Riesen-Schrankwand reihte sich am Straßenrand, was das junge Ehe-Glück erfreut. Zum halben Israel-Preis. Wer den Schrank 20 Zentimeter kürzer wollte, konnte sich die Maßanfertigung nach zwei Wochen abholen. Oder nach Hause bringen lassen. Ein Araber aus dem nahen Dschaldschulya direkt an der Grünen Linie, aber auf der israelischen Seite, brachte sie ihm nach Herzlia oder Bat Jam.

Dann wuchs die Sperranlage in die Breite und obwohl sie bei Ariel bis heute immer noch lange Kilometer zaunlos klafft, verlor Biddya seine Anziehungskraft. Denn was wäre der Nahe Osten ohne seine Paradoxe? Gerade der Bau der Sperranlage sorgte für eine neue Billig-Outlet-Filiale. In Bartaa. Ein Städtchen am Nordrand der „Palästinensischen“ Autonomie, das bis 1967 von der Grünen Linie und dem Flussbett des Wadi Ara geteilt war. Den Osten dieser geteilten Stadt kontrollierte nicht die Rote Armee, sondern die Jordanische Legion.

Der Westen gehörte zu Israel und die Mauer trennte die Brüder und Schwestern einer einzigen Großfamilie, die in diesem zur Kleinstadt angewachsenen Doppel-Dorf lebt. Israels Sperranlagen-Planer berücksichtigten nach langem Hin und Her die inständigen Bitten der Bartaaer und beließen den „palästinensischen“ Teil als „palästinensische“ Enklave auf der israelischen Seite. Was zu Problemen mit der Anbindung ans Autonomie-Gebiet jenseits der Mauer führt. Vor allem für Berufspendler und Verwaltungsbeamte.

Dafür funktioniert der Nachschub preisgünstiger Waren aller Art aus dem Autonomiegebiet nach Bartaa-Ost umso besser. In Bartaa-West wünschen sich hingegen viele die Mauer versetzt und die Teilung zurück. Denn aus dem armen „palästinensischen“ Anhängsel hinter dem verschlammten Wadi wurde eine Freihandelszone, die Israelis in Massen anzieht. Im ehemals wohlhabenderen israelischen Westteil kauft niemand mehr ein. Dort parken sie allenfalls ihre Autos. Wenn sie denn einen Parkplatz finden. Ist Düsseldorfs Altstadt die längste Theke der Welt, ist Bartaas Oststadt das längste Eigenheim-Einkaufzentrum auf Erden.

Kein Haus ohne Geschäftsnutzung im Erdgeschoss. Bartaa hat alle Marketing-Erfahrung der Vorgänger-Märkte vereint. Von der Kartoffel bis zum Klapp-Sofa, Rindfleisch (halal) bis zur Nudelmaschine, Orangen und Schnittblumen – hier findet sich alles. Über den Wadi-Schlamm führt ein improvisierter Pfad aus Einweg-Holzpaletten. (Vorsicht mit all den Tüten auf dem Rückweg. Für ein wenig Trinkgeld helfen junge Bartaaer gerne.) Auch die zweite Intifada konnte den Drang nach Schnäppchen nicht ganz versperren. (…)

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