John Bercow ruft im britischen Unterhaus die streitenden Abgeordneten zur Ruhe  

Von Peter Sichrovsky

„The Speaker of the House“ im britischen Parlament kennt jeder, der einmal die Live-Übertragung einer Debatte beobachtet hat. Mit scharfer, lauter Stimme und der dazugehörigen Mimik mahnt er die Abgeordneten zur Ruhe, unterbricht sie, oder schimpft sie zusammen als wären sie keine Parlamentsmitglieder, sondern Schüler in einer Volksschulklasse.

Sein provokantes Verhalten hat in den letzten zehn Jahren öfters Aufsehen und auch Protest erregt, und so mancher Premierminister reagierte irritiert und verwundert auf die Interventionen des Speakers. Doch er wird auch bewundert wegen seiner Schlagfertigkeit, seiner sprachlichen Eloquenz, und niemand scheint in diesem ehrwürdigen Haus die oft komplizierten Regeln so zu kennen wie er, und niemand wagt es zu widersprechen, wenn er sich in eine Debatte einmischt.

Wer ist John Bercow?
Weniger bekannt sind der Hintergrund und die Herkunft von John Bercow. Im Jahr 1900 kam sein Großvater als 16-Jähriger ohne Eltern und Verwandte mit praktisch nichts nach London aus einem jüdischen Schtetl in Rumänien, wo sich seit dem Mittelalter wenig verändert hatte. Er schlug sich mit verschiedenen Arbeiten durch, bis ihn ein Pelzhändler als Hilfskraft angenommen hat, wo er das Handwerk des Kürschners erlernen konnte. Später eröffnete er seine eigene Pelzhandlung. Sein Sohn, Bercows Vater, interessierte sich für Autos und besaß bald ein erfolgreiches Autogeschäft, doch als John Bercow als junger Mann zur Schule ging verspekulierte sich sein Vater, verlor das Geschäft, seine Frau verließ ihn, und er brachte sich als Busfahrer durch.

Die jüdische Tradition verlor trotz allem Chaos nie ihre Bedeutung in der Familie. Der junge John hatte seine Bar Mitzwa in der Finchley Reform Synagogue und lebte bis zu seiner Universitätszeit im jüdischen Viertel im Norden von London, einem Stadtteil mit einer der größten Konzentration von Juden in Europa. Er wurde der erste Jude in der Geschichte des britischen Parlaments – House of Commons –, der zum Sprecher nominiert wurde, reiste in dieser Funktion nach Israel, das zuvor noch nie von einem Sprecher des Hauses besucht wurde und empfängt regelmäßig Delegation von jüdischen Organisationen im britischen Parlament.

In der Diskussion um den wachsenden Antisemitismus, der vor allem Vertreter der Labour Party betrifft, vertritt er eine schonungslose Position und kritisiert in seiner offenen, typisch rücksichtslosen Art und Weise das Verhalten von politischen Vertretern. Bezüglich Holocaust und Antisemitismus gäbe es keine Kompromisse und keine Nachsicht, meinte er mehrere Male und warnte, sich auch in seiner Funktion als Sprecher des Parlaments zu diesem Thema, wenn immer es notwendig sei, lautstark zu Wort zu melden.

Rhetorik früh gelernt
Seine rhetorischen Fähigkeiten habe er in seiner Kindheit trainiert. Er sei als Kind meistens der Kleinste der Klasse gewesen und hätte sich stets gegen die oft aggressiven Angriffe und Verhöhnungen zu wehren gewusst, sagte er einmal in einem Interview. Das sei ein gutes Training gewesen für den harten Job im Parlament. Er habe ein besonderes Gefühl und eine Spürnase für untergriffige Attacken und Angriffe „unter der Gürtellinie“.

Auf der Universität schloss er sich dem sogenannten „Monday Club“ an, einer erzkonservativen Studentengruppe, die Einwanderung und Asyl ablehnte, und wurde sehr bald zu einem der Vertreter der „Federation of Conservative Students“ gewählt, die allerdings eines Tages von den Tories selbst geschlossen wurde, weil die aggressive, rechts-konservative Politik der Gruppe zu einer Blamage für die eigenen Partei geworden war.

Nach dem Studium arbeitete er für kurze Zeit als Assistent eines Ministers, bis er 1997 als Vertreter der Konservativen für den Bezirk Buckingham ins Parlament gewählt wurde. Selbst der sensationelle Sieg von Tony Blair konnte John Bercows Sieg in seinem Bezirk nicht gefährden, und er behielt seinen Platz im Parlament.

Als Abgeordneter im Parlament veränderten sich seine politischen Ansichten, er wurde toleranter und setzte sich für gleichgeschlechtliche Heirat ein, für die Rechte von Minderheiten und ein großzügiges Einwanderungsgesetz. Sehr zum Schock seiner erzkonservativen Kollegen und Kolleginnen begann er mit seiner geschickten Rhetorik und Überzeugungskraft die altmodische Konservative Partei, die sich von der Ideologie einer Margret Thatcher nicht lösen konnte und eine Wahl nach der anderen verlor, Schritt für Schritt zu modernisieren und gilt heute als einer der Väter des Wahlerfolgs von David Cameron. (…)

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