Mai 4, 2018 – 19 Iyyar 5778
Das plötzliche Gefühl des Dazugehörens

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70 Jahre Israel: Trotz nicht-vorhandener Hebräisch-Kenntnisse fühlt man sich auch als österreichischer Jude zu Hause  

Von Peter Sichrovsky

Vor ein paar Jahren begleitete ich ein Mitglied der Familie Swarovski nach Haifa, wo ich einen Besuch des neuen Nobelpreisträgers für Chemie vorbereitet hatte, der an der Universität Technion unterrichtet und auf dem Gebiet der Kristallographie arbeitet. Der Besuch war für meinen Auftraggeber ziemlich sinnlos, da der Vertreter von Swarovski aufgrund eines Missverständnisses davon ausging, dass des Arbeitsgebiet des berühmten Preisträgers etwas mit der Verarbeitung von Glas zu tun haben könnte, wie sie Swarovski betreibt.

Bevor wir den ehrenwerten Professor trafen, bot die Sekretärin des Präsidenten der Universität an, uns durch die Hochschule zu führen. Es begann der übliche Rundgang durch Institute, Lehrsäle und Laboratorien, und wie üblich bei solchen Touren, die von den Beauftragten mehrmals pro Woche durchgeführt werden müssen, klangen die Erklärungen der an und für sich durchaus netten Sekretärin wie ein Tonband, das mehrmals täglich abgespielt wird.

Dann kamen wir zur Bibliothek über dessen Eingang ein Name stand: Paul Hoenig.

Ich fragte sie, wer Paul Hoenig gewesen sei, und sie antwortete, es ginge um einen Maler, der eine neue Technik entwickelt habe, bei der Sonnenlicht auf die Leinwand projiziert werde und am Technion unterrichtet habe.

Plötzliche Wendung
„Dann ist er der Onkel meines Vaters“, sagte ich und erzählte ihr, wie oft ich ihn vor vielen Jahren in Haifa besucht hätte, jedoch nicht wusste, dass er im Technion unterrichtete. Natürlich veränderte das meine Position gegenüber den üblichen Besuchern, und die nette Sekretärin führte mich in einen Raum innerhalb der Bibliothek, wo die Arbeiten von Paul Hoenig ausgestellt waren.

„Er hat allerdings von einem Tag zum anderen aufgehört zu Malen und dann nur mehr unterrichtet, obwohl seine früheren Arbeiten wunderschön sind“, sagte unsere Begleiterin.

„Ich weiß“, sagte ich zu ihr und fragte sie, ob sie den Grund dafür wisse. „Nein“, antwortete sie.

„Er hat seinen einzigen Sohn im Sechs-Tage-Krieg verloren und hat dann aufgehört zu Malen. Wenn immer ich ihn besuchte, zeigte er mir zwar seine Bilder, aber betonte auch, dass er seit diesem Tag nicht mehr Malen könne“, sagte ich zu ihr.

Wir schwiegen eine Weile und ich sah mir die Bilder an. Dann sprach sie mich plötzlich auf Hebräisch an. Ich erklärte ihr, ich würde die Sprache nicht verstehen.

Kein einziges Wort Hebräisch
„Gar nichts?“, Fragte sie mich. „Nein, nicht ein Wort“, antwortete ich ihr. „Dabei sehen sie aus wie ein pensionierter israelischer General“, sagte sie und lachte. „Das passiert mir immer wieder hier in Israel. Die Leute sprechen mich auf Hebräisch an und sind dann ganz erstaunt, wenn ich nichts verstehe“, sagte ich zu ihr.

Wie sich plötzlich der Rundgang verändert hatte. Nun plauderten wir wie alte Freunde oder Verwandte, die sich schon eine Weile nicht gesehen hatten. Plötzlich war da eine Verbindung.

Alles wollte sie von mir wissen. Jede Einzelheit meiner Familie, meiner Eltern, der Verwandten von Paul Hoenig, wie meine Eltern den Krieg überlebt hätten und natürlich die Frage, warum ich nicht in Israel leben würde.

Es ergab sich plötzlich diese Nähe und Vertrautheit, die ich jedes Mal erlebe, wenn ich nach Israel komme. Man hat das Gefühl, jeden schon einmal getroffen zu haben, irgendwo, irgendwann in der Welt. Eine emotionale, häusliche Wärme umgibt einen, und plötzlich glaubt man wirklich, dass es das Beste wäre, einfach hierher zu ziehen. Es wäre dann alles anders, redet man sich ein, die Fremdheit wäre verschwunden und man könne ein Zuhause finden.

Ein Traum zwar, aber ein schöner Traum. Denn spricht man mit jenen der Familie und der Freunde, die diesen Schritt gewagt haben, sieht die Realität ganz anders aus. Als verwöhnter Wiener kann man sich zwar in den USA und England niederlassen, wie ich es versuchte, doch Israel ist eine andere Dimension. Alles ist hier ein täglicher Kampf, nichts passiert einfach so, und jeder Auftrag an einen Installateur, einen tropfenden Wasserhahn zu reparieren, ist ein existentielles Abenteuer. Die Doppelgleisigkeit ist nahezu unmenschlich, das ‚gesagt‘ aber nicht ‚gemeint‘ haben eine Tortur, die jahrelanges Training erfordert, um es zu überleben.

Jeder Fußweg durch einen Park, bei dem ein Schild in eine Richtung zeigt, in die man gehen sollte, führt dazu, dass 90 Prozent in die andere Richtung gehen. Jede Tür, auf der ‚Bitte nicht Eintreten‘ steht, wird vor allen anderen Türen geöffnet. Ertönt bei einem ELAL-Flug die Durchsage des Kapitäns, man sollte sich für die Landung anschnallen, steht das halbe Flugzeug auf und beginnt, die Gepäckstücke aus den oberen Ablagen herauszunehmen.

In einem Restaurant in Venedig saßen vor ein paar Jahren am Tisch neben mir vier Israelis, die dem Ober erklärten, wie der Koch den Fisch zubereiten sollte, den sie bestellten. Auf seinen Einwand, dass das Restaurant berühmt sei für die Art der Zubereitung, erwiderten die Israelis, sie würden ihn jedoch anders wollen. Den nach eigenen Ideen gekochten Fisch aßen sie nicht, weil er ihnen nicht schmeckte, und stritten dann später mit dem Besitzer des Restaurants, den sie verlangten, als sie die Rechnung sahen und dem Ober erklärten, sie würden den Fisch nicht bezahlen. Er wäre nicht gut gewesen.

Mit diesem Widerspruch müssen wir Juden in der Diaspora leben, wir lieben sie und sie gehen uns unendlich auf die Nerven, unsere Israelis. Wir bewundern sie und sind dennoch zufrieden, dort nicht leben zu müssen. Wir fahren immer wieder mit Begeisterung hin und sind froh, wenn wir wieder zurückfliegen, um uns ein paar Monate später auf den nächsten Besuch zu freuen.

Die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod
Jeden Samstag, wenn Jerusalem in der Religiosität versinkt, stellen ein paar Männer und Frauen Lautsprecher und eine Musikanlage am Strand von Tel Aviv auf dem Platz vor einem der Hotels auf. Zu der israelischen Musik, die laut über den Strand dröhnt, tanzen oft mehr als hundert Menschen hier in großen Kreisen, halten einander bei den Händen, drehen sich, springen, bewegen sich mit perfekten Tanzschritten, oder gehen einfach langsam. Jeder macht mit. Jeder auf seine Weise. Kinder, Greise, Soldaten, schwangere Frauen und Hippies, die an der Leine einen Hund nachziehen. Aus den Bewegungen zu der orientalischen Musik strömt eine Lebensenergie und Lebensfreude, die wir in Europa nicht kennen. Jeder, der Israel zum ersten Mal besucht, sollte sich dort ein paar Stunden hinstellen und nur zusehen. Vielleicht beginnt er dann das Land und die Menschen zu verstehen. (…)

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