Juli 3, 2014 – 5 Tammuz 5774
«Zu viel» Kritik am Reformator?

image

Extrem di erente Benotungen für eine Masterarbeit an der Humboldt-Universität Berlin geben Rätsel auf 

Im Studiengang «Religion und Kultur» an
der Humboldt-Universität Berlin schrieb
die Studentin Luise Mohnhaupt ihre Abschlussarbeit
zum  ema «Antijudaismus als Herausforderung an die evangelische
 eologie». Die Bewertungen bewegten sich
zwischen 1,0 und 4,0. Eine Gerichtsverhandlung
scheint nicht mehr ausgeschlossen.

Eher zu Seltenheiten gehört es, wenn eine universitäre
Abschlussarbeit mit drei vollen Noten
Unterschied bewertet wird. Kommt so eine
Spanne durch höchst unterschiedliche Leistungseinschätzung
dann doch vor, so schlägt die Stunde des Dri gutachters. Von ihm erho
man sich besondere Objektivität und Sorgfalt,
und häu g wirkt sein Gutachten entschärfend
 oder klärend. Es kann aber auch vorkommen,
dass mit jedem Gutachten mehr Fragen als
Antworten entstehen. Derzeit erlebt die  eologische
Fakultät der Humboldt-Universität
Berlin (HUB) so einen brisanten Fall: Sie hält
ihn– glaubt man den jüngsten Statements– für
abgeschlossen, doch die betro ene Absolventin
Luise Mohnhaupt zieht nun entschlossen
vor Gericht. «Lutherische Notengebung» hat
der Philosoph und Erziehungswissenscha ler
Micha Brumlik die Vorkommnisse in einem
Gastkommentar für die Berliner Tageszeitung
«taz» genannt. Andere indizieren einen handfesten
Skandal.

Was ist geschehen? Im Studiengang «Religion
und Kultur» der  eologischen Fakultät
der HUB – wohl gemerkt, einem säkularwissenscha
 lich konzipierten Fach – reichte
die Studentin Luise Mohnhaupt Anfang 2013
ihre Masterarbeit zum  ema «Antijudaismus
als Herausforderung an die evangelische
 eologie» ein. Mohnhaupt ging unter anderem
aus religionswissenscha licher Perspektive
der Frage nach, ob und in welcher Form
die christliche  eologie – vorzugsweise die
protestantische – ihr Bild vom Judentum und
damit auch zentrale Glaubensfragen neu überdenken
müsse. Im Vorwort der Arbeit stellte
sie die heikle und bis heute sehr unbequeme
Frage, wie Auschwitz und der Holocaust im
Herzen eines dezidiert christlich geprägten
Kontinents geschehen konnten. Ausdrücklich
grenzt die Autorin sich von Forschern ab, die
vom mi elalterlichen, durchaus exzessiven Judenhass
eine Linie bis zu den Gaskammern der
Nazis ziehen wollen. Es ist aber auch nicht ihr
Stil, die dunklen Seiten der christlich-jüdischen
Beziehungsgeschichte auf dem «Alten Kontinent
» beschönigen zu wollen. Sie zeichnet im
machbaren Rahmen einer Masterarbeit nach,
wie spätantike und mi elalterliche Judenfeindscha
 – und später auch politischer Antisemitismus
– durch christliche Polemik gegen «das
Volk der Christusmörder» befeuert wurden,
und mit welchem Ergebnis.

Analysen, die weh tun
Mohnhaupt beschreibt den christlichen Antijudaismus
deutscher und europäischer Prägung,
welcher nach 1945 zunächst verstummt
schien, mit analytischer Schärfe, und das kann
mitunter weh tun. Sie lässt dabei weder die antijüdischen
Wortführer unter den Kirchenvätern
des 4. Jahrhunderts aus, noch macht sie einen
Bogen um den exzessiven Judenhass von Reformator
Martin Luther.

Absolventin Luise Mohnhaupt vor der Humboldt-Universität Berlin

Absolventin Luise Mohnhaupt vor der Humboldt-Universität Berlin

Nachweislich haben führende
evangelische eologen im Dri en Reich
und selbst der Chefredakteur des berüchtigten
NS-Hetzbla es «Der Stürmer», Julius Streicher,
Luther als historischen Kronzeugen
bemüht, um ihr rabiates Vorgehen gehen die
jüdische Minderheit auch moralisch zu rechtfertigen.
Und in der Tat: Mit seiner Sendschri
«Von den Juden und ihren Lügen» von 1543
ha e Luther praktische Empfehlungen für einen
radikalen Ausschluss der Juden aus der
übrigen Gesellscha gegeben, die in ihrer Radikalität
kaum zu überbieten waren. 400 Jahre
später wurde er damit o ensichtlich sehr ernst
genommen. Zudem ha en gerade deutsche
protestantische  eologen ab 1933– und teils
auch zuvor schon– eine erstaunliche A nität
zur nationalsozialistischen Bewegung entwickelt,
wie beispielsweise die Neutestamentler
Ethelbert Stau er und Gerhard Ki el
Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg und der
Ermordung von 6 Millionen europäischer Juden
noch einige Jahrzehnte gedauert, bis beide Großkirchen
sich der Frage zuwandten, ob die eigene
antijüdische Tradition diese Katastrophe möglicherweise
begünstigt hat. Der Umdenkprozess, wenn auch wohl eher die Sache
einiger weniger Repräsentanten, eologen
und stark interessierter Laien, zeitigte zunächst
ho nungsvolle Resultate, erkennbar etwa an der
Vatikanischen Erklärung «Nostra Aetate» im
Jahre 1965, in der das jüdische Volk – heilsgeschichtlich
gesehen– endlich auch als verwandtes,
quasi geschwisterliches Volk respektiert
wurde. Auf protestantischer Seite ließ der Rheinische
Synodalbeschluss von 1980 au orchen,
der von «Mitverantwortung und Schuld der
Christenheit in Deutschland am Holocaust»
sprach und die «bleibende Erwählung des jüdischen
Volkes als Go es Volk» unterstrich.
Auch diese bemerkenswerte Entwicklung wird
in Luise Mohnhaupts Arbeit nachgezeichnet.
Zugleich geht die Autorin auf  eologen der Gegenwart
ein, die sich aus religiöser Perspektive
mit Auschwitz auseinandersetzen, einen neuen
Zugang zum Judentum suchen und ihre Vorstellungen
einer Re-Formulierung christlicher Dogmatik
zur Deba e stellen, im deutschen Raum
beispielsweise Friedrich Wilhelm Marquardt.
Einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Abschlussarbeit
verwendete Luise Mohnhaupt
darauf, Ergebnisse der historisch-kritischen
Forschung und die heutige, innerkirchliche
Re ektion des «gestörten» Verhältnisses zum
Judentum in Beziehung zu setzen. Eine spannende
Perspektive, mag man meinen, bei der
die methodischen Vorteile eines interdisziplinär
gehaltenen Studienganges – «Religion und Kultur
»- sinnvoll genutzt werden können. Anknüpfungspunkte
für weitere Studien in dieselbe
Richtung scheinen gegeben. Vielleicht aber will
demnächst auch niemand das Feld betreten.

Von Henri ZIMMER

Komplett zu lesen in der Druckausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier abonnieren oder hier einen Kennenlernen-Exemplar bestellen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke