Februar 2, 2017 – 6 Shevat 5777
Schatzkästchen und Nussschale

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Tel Aviv durch die Augen des Berliner Schriftstellers Marko Martin  

Von Martin Jehle

Dass es Israel und besonders seine liberale Metropole am Mittelmeer, Tel Aviv, Marko Martin (46) angetan haben, hat der Berliner Schriftsteller und regelmäßige Autor der „Welt“ schon oft in seinen Texten unter Beweis gestellt. Nun widmet er Tel Aviv ein ganzes Buch. Herausgekommen ist ein Werk voller Zuneigung und Bewunderung für seine Lieblingsstadt.

Martin beschreibt darin auch seine ganz persönliche Geschichte mit Tel Aviv; von der ersten Reise im Juli 1991, kurz nach dem Golf-Krieg, bei dem Israel von Saddams Husseins Irak mit Raketen angegriffen wurde, bis in die Gegenwart. Bei Erscheinen des Buches im März des letzten Jahres waren es bereits 25 Aufenthalte – Ausschnitte daraus lässt er Revue passieren.

Das Buch ist sorgfältig illustriert mit Schwarzweiß-Fotos von Rainer Groothuis, Verleger des Corso-Verlages, in dessen Reihe „Draussen“ mit Portraits über Länder und Städte, Martins Werk erschienen ist. Straßen- und Alltagsaufnahmen, zufällige Szenen, Gebäude, Menschen, schöne und schäbige Ecken geben einen authentischen Eindruck der Optik Tel Avis. Dem steht der Text in keinster Weise nach. Der Autor, schon aus früheren Werken (u.a. „Madiba Days“, 2015) für seine einem Selbstgespräch ähnelnden Schreibweise in der 2. Person Singular bekannt, nimmt seine Leser mit auf seine Reisen nach Tel Aviv und zu sich selbst.

Erkundungen entlang von Hotels
Mehr als die Hälfe des Buches nehmen die von Martin über die Jahre besuchten Hotels ein. Ob sein erstes Hotel auf der Allenby Street, eine namenlose „Absteige“, das bekannte „Old Jaffa Hostel“ mit seiner großen Dachterrasse, das mittlerweile renovierte „Bell Hotel“ oder das untergegangene „Hotel Galim“, nun, wie Martin schreibt, „die beeindruckendste Ruine der unteren Allenby.“ Auch diesem Zustand kann der Autor noch etwas Positives abgewinnen, ebenso dem „Hotel Nordau“, in der Nahalat Binyamin Street, ebenfalls verschwunden, benannt nach Max Nordau, einem ungarischen Arzt und Zionisten, erbaut von dem Architekten Jehuda Leib Magidovitch, der aus Odessa gekommen, sich mit über 400 Gebäuden in Tel Aviv verwirklichte, in „jenem griechisch-russisch-orientalisch-funktionalen Stil, welcher der Stadt angemessen war.“ Ein Haus, in dem Fromme, orthodoxe Juden, Prostituierte trafen, eine kleine Auszeit von Ehe und religiösem Alltag nahmen.

Der zweite Abschnitt des Buchs ist mit „Restaurants und Kollegen“ überschrieben. Martin tourt durch die Restaurants der Stadt, immer mit Autorenkollegen im Schlepptau. Eingekehrt wird unter anderem in einem überteuerten Hipster-Lokal in der bekannten Shenkin Street, der Kastanienallee von Tel Aviv, im angeblich einzigen Thai-Restaurant der Stadt an der Ecke Ben Yehuda Street/ Bograshov Street, im „Radio Rosco“, obere Allenby Street, gegenüber der großen Synagoge, oder im rund um die Uhr geöffneten „Benedict“ an der Ecke Allenby Street / Rothschild Boulevard. Diskutiert wird immer, über große Politik und kleine Befindlichkeiten. Gerade weil seine linken Schriftstellerfreunde mitunter auch die israelische Armee kritisieren oder gegen die Abschiebung afrikanischer Flüchtlinge aus Darfur protestieren, wird Martin zum Verteidiger dieses so skrupellos selbstkritischen Landes. Sei es Dana Yoeli, Nir Baram, dessen Bücher er nebenbei vorstellt, der arabisch-israelische Schriftsteller Ayman Sikseck, Benny Ziffer, mit dem er Bibi Netanjahu analysiert, oder die Deutsche Sarah Stricker – Martins Neigung zum Detail und Chronisten wird hier besonders deutlich, zur guten Unterhaltung und Kenntniserweiterung seiner Leser. In einer Szene mit Etgar Keret im Café Michal in der Dizengoff Street, beschreibt er dessen Familie und Verwandtschaftsverhältnisse (u.a. zu Mosche Dajan), zeigt an diesem (und anderen) Beispielen wie eng die kulturelle und politische Elite europäischer Herkunft Israels miteinander verbunden ist .

Verteidiger Israels
Wie immer in den Büchern von Marko Martin fehlen die Clubs nicht. Hier ist der Autor ganz bei sei sich, hier überschneiden sich Protagonisten- und Beobachterrolle. Ständig wird in den Clubs nach Berlin gefragt, für Martin ein dankbarer Aufhänger. Er nimmt uns mit ins „Metro“ oder den „Vox-Club“ zur Zeit des Libanon-Krieges 2006: „Zivilisten. Rekruten, Soldaten, aber wer sähe im neblichen Neonzucken des Unterschied. Die geschmeidige Härte ihrer Bewegungen, und die Frauen zwischen ihnen mit den gleichen Tattoos, bauchfreien T-Shirts und einer Selbstsicherheit, die vor allem Dank Ecstasy zu existieren schien.“ Martin beschreibt die die towel off-Parties in dem Laden „Paradise“, wo die Handtuchbekleidung oder eben nicht, eine große Rolle spielt. Jacuzzi, Sauna und Dancefloor mit Trance-Techno-Klängen: Für Martin sind die Clubs nicht nur Orgien-, sondern auch Interpretations- und Debattenorte.

Im dritten Abschnitt („Meine Strände“) wird es dann ruhiger: Schwimmen, Entspannung, Auf- und Untergang von Sonne und Mond. Hier schaut Martin ganz weit zurück in seine eigene Vita, erklärt, wie er 1991 zu Israel kam und gleichzeitig seinen Glauben an die links-liberalen bundesdeutschen Intellektuellen verlor. Ein bisschen eigene Nabelschau muss sein, Identitäts-und Familienfragen. Martin sieht sich in Tel Aviv auch angekommen auf seinem persönlichen Weg, weg aus der sächsischen Provinz der DDR, aus einer Zeugen-Jehovas-Familie. In einem Satz ganz pathetisch: „Manchmal möchtest Du weinen vor Daseinsdankbarkeit und purer Freude.“ Erwähnung findet auch die Geschichte des Fotostudios Weissenstein und seiner Inhaberin Miriam, die mit ihrem Mann Rudi, dem Fotopionier des jungen Staates, ganz Israel fotografiert hatte. Gordon Beach, Chich Beach, Ge´ula Beach oder Ga´asch Beach, der FFK-Stand, streift Martin, ohne je um eine Strandbekanntschaft und ein gutes Gespräch verlegen zu sein.

Berlin, Berlin
Martin verknüpft und verwebt Orte und Begegnungen, es sind zufällig immer die richtigen Leute, (Privat-)Geschichten, Historisches, Politisches, Erinnerungen reihen sich aneinander. Er spürt Stimmungen und Gerüchen nach, Beziehungen werden erkennbar – alles zusammen ein Mosaik der Tel Aviver Stadtgesellschaft. Auch spiegelt Martin die Stadt mit „Konstanz oder Berlin“, wenn er bemerkt in Tel Aviv „nirgendwo hysterische Helikopter-Mütter“ zu sehen.
Er geht auf Frisuren, Kleidung, Mimik und Gestik ein, ist ein genauer Beobachter, der auch auf das scheinbar Unwichtige und Nebensächliche achtet, immer aus der Position der Anonymität, aber jederzeit mit der realen Möglichkeit, „sie in einem Handumdrehen/ einem Lächeln/ einer Bemerkung zu beenden.“ Martin ist einer, der an die Ränder der Stadt und ihrer Gesellschaft geht, in die runtergekommenen Ecken schaut, mit schrägen, komischen, verrückten Typen ins Gespräch kommt, Gestrandete, Nacht-Existenzen trifft, die ihm ihre Geschichten oft großzügig offenbaren. Er ist ein besonderer Reisender, jemand, der instinktiv auf der Suche nach Unkonventionellem, Freakigem ist, der für völlig Abseitiges ein Auge hat und dem selbst noch etwas zu den russischen Bodyguards vor den Pubs und Nachtclubs auf der Allenby Street einfällt.

Schließlich fasst Martin den Charme Tel Aviv mit einigen Gedichtzeilen von Yitzhak Katzenelson aus dem Jahr 1934 zusammen:
„Stadt, hast keine goldnen Schlösser, / weder Köningspalast noch König, / doch sag: Wer ist vergleichbar deiner Schönheit, / wer kann sich messen mit deiner Pracht?“
An Aktualität haben diese Zeilen nichts eingebüßt.

Marko Martin: „Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“, Corso Verlag, 2016, 156 Seiten, mit Fotografien von Rainer Groothuis, 28 Euro.

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