Februar 8, 2016 – 29 Shevat 5776
Nicht Gott, nicht Moses, sondern Pharao schickte.

image

Was, wenn ein Volk sich nicht retten lassen will?  

Von Ulrich Jakov Becker

Die wohl gängigste Lesart über den Auszug der Israeliten aus Ägypten ist die Befreiung einer unterdrückten und geknechteten Gruppe aus den Händen des mächtigsten Weltreiches seiner Zeit und seines paganischen Despoten durch die wunderbare Hilfe des allmächtigen Gottes.
Das göttliche Exempel, das hier statuiert wird, sollte aller Welt zeigen, dass die Strafen und Plagen, die der monotheistische Gott anwendet, so gewaltig, so niederschmetternd sind, dass kein Mensch, kein Reich und kein Herrscher – so mächtig sie auch seien, so eitel sie sich auch schätzen – vor ihnen bestehen kann.
Der exzentrische, vergötterte Pharao hat am Ende keine Wahl und muss sich dem Diktat des echten Gottes unterwerfen und die Israeliten in die Freiheit ziehen lassen. Ein gewaltiger, theologischer Kraftakt zwischen Gott und Pharao und dem Volk Israel, das sich retten lässt.
 
Da gibt es nur ein Problem: Mosche (Moses) fordert von Pharao nie die Freilassung der Israeliten.
Nach dem Text der Thora erreicht Mosche nach all den Plagen und vernichtenden Wundern nur die Einwilligung Pharaos drei Tagesreisen weit in der Wüste Sinai ein Opferfest für den „Gott der Hebräer“ feiern zu dürfen, der sonst seinem Volk – und damit Pharaos wertvollen Sklaven – schaden würde. Pharao gewährt anfangs nicht einmal diese milde, und wohl verständliche Bitte, diesen nationalen Kurzurlaub nach hunderten Jahren in Ägypten, obwohl er doch klar in seinem Interesse sein sollte. Er lehnt schroff ab.

Im Laufe der zunehmend verheerenden Katastrophen, die über Ägypten hereinbrechen, folgen Verhandlungen zwischen Pharao und Mosche, wer vom Volk vielleicht doch gehen könnte, ob mit Tieren oder ohne usw., bis Pharao – seinen Erstgeborenen Sohn tot vor sich liegend –, endlich zustimmt.
 
Wenn auch offensichtlich entnervt, zähneknirschend und nur nachdem er durch die zehn Plagen, die Ägypten halb vernichtet haben, weichgeklopft wurde – fordert er die ziehenden Pilger sogar noch dazu auf, für ihn beim „hebräischen Gott“ auch um eine Segnung zu bitten. Nach diesem Freiluftgottesdienst auf Sinai – so muss Pharao verstehen – werden sich seine geschundenen Sklaven in höchstens einer Woche wieder zum Dienst an seinen gigantischen Bauprojekten am Nil melden.
 
Ist das der kosmische Sieg des Monotheismus über die Vielgötterei, wenn Pharao zustimmt, sie in einen Kurzurlaub zu entlassen? Sieht so der glorreiche Sieg der göttlichen Allmacht gegenüber der menschliche Hybris aus? Wenn man ein Exempel statuieren will, und den Willen des weltgrößten Despoten vor den Augen der Welt brechen – zu jeder nur erdenklichen Forderung –, warum dann nicht offen den vollständigen Auszug fordern, bis Pharao zustimmt, sollte es auch doppelt so viele Plagen kosten? Warum durch Lug und Trug die halbherzige Zustimmung des paganischen Despoten erschleichen? Und warum „verhärtet“ Gott immer wieder das Herz Pharaos?
 
Gott vs. Parao oder Gott vs. Israel?
Alles erscheint in einem anderen Licht, wenn man den „theologischen Kraftakt“ nicht zwischen Gott und Pharao, sondern zwischen Gott und dem Volk Israels sieht.
 
Was war genau geschehen am brennenden Busch? Welchen Auftrag bekam Mosche?
Gott war Mosche beim Schafhüten auf dem Berg Sinai erschienen – nachdem er sich Jahrhunderte niemandem mehr „offenbart“ hatte – und rief nun ihn an, den schüchternen Flüchtling in Midjan.
Mosche zeigt sich sofort folgsam, hört Gott an, während er die Erlösung der Israeliten von ihren Leiden ankündigt. Als Gott dann vom Auszug ins Lande Kanaan redet, reißt Mosche die Hände hoch: „Ich bin nicht der richtige Mann für den Job!“ Die Israeliten würden ihm nicht „glauben“, und sowieso, Pharao und die Israeliten vom Auszug zu überzeugen – das sind gleich zwei fast unmögliche Aufgaben.

Gott versichert ihm, „ich werde dir helfen, Wunder vollbringen etc.“. Daraufhin zweifelt Mosche weiter, ob er die Israeliten überzeugen kann – das Problem mit Pharao allerdings erwähnt er nicht weiter – es scheint das Lösbarere zu sein.
Gott weist ihn daraufhin an, den Ältesten der Israeliten alle Worte Gottes zu sagen, einschließlich des Auszugs nach Kanaan und „sie werden auf deine Stimme hören und mit dir vor den König Ägyptens treten.“
Es fragt sich, ob man hier das Hebräische nicht eher lesen sollte als „Falls sie auf deine Stimme hören werden…”, denn wir sehen bald, dass Mosche und sein rhetorisch begabter Bruder Aharon, der ihm von Gott als Sprachrohr zur Seite gestellt wurde, ganz alleine vor Pharao treten. Der bekannte Raschikommentar zu der Stelle berichtet, wie die Ältesten sich zuvor einer nach dem anderen „verkrümelt“ hatten.
 
Nichts destotrotz, Mosche hält an dem Plan und der Absprache mit Gott fest, nachdem Pharao etwas anderes als den Israeliten gesagt wird: Von ihm nämlich wird, wie gesagt, nur gefordert, die Israeliten am Berg Sinai ihrem Gott dienen zu lassen – nicht mehr und nicht weniger. Kein Wort vom Lande Kanaan!

Pharao schmeißt die beiden fast von allen Treppen des Palastes und zur Strafe, müssen die Israeliten jetzt noch schwerer arbeiten, welche sich bei Pharao beklagen, dass er es seinen Knechten so schwermacht. Die Israeliten empören sich gegen Mosche wollen offenbar nichts mehr hören von einem Auszug oder allem, was Pharao weiter erzürnen koennte. Pharao ist ihr wahrer Meister, nicht Gott. Mosche solle es doch nicht noch schlimmer machen.
 
Ein wenig erinnert es mich daran, wie sich Netanjahu gerade in Sachen Iran-Deal offen gegen Obama stellte und die israelische „Linke“ – auch wenn sie zustimmen, wie gefährlich und schlecht dieser Deal ist – Netanjahu öffentlich schalten, dass er es doch nicht noch schlimmer machen soll und durch seine konfrontativen Worte Israel schlecht mache „in den Augen Pharaos und seiner Diener“.
 
Wie dem auch sei, das Volk will keinen Stress mit Pharao und nichts mehr von Mosche und seinem Exodusplan hören. Puff, aus, vorbei. Exodus in die Schublade. Der große, göttliche Rettungsplan scheint vor dem Aus zu stehen. Der theologische GAU: Wie soll man ein Volk retten, das nicht gerettet werden will?
Wie soll man jemandem helfen, der offensichtlich leidet, sich aber nicht helfen lassen will? Ist das überhaupt erlaubt? Ist das nicht „sein Ding“? So hat man doch gut-liberal gelernt im Dreieck „Toleranz, Ignoranz, Desinteresse“, oder nicht?
 
Und kann Gott jetzt überhaupt noch etwas machen? Kann er jemanden zwingen an ihn zu glauben? Was soll der Herrscher des Universums tun, wenn das Volk nicht will?
Ist er denn nicht allmächtig? Spielt er nicht mit Menschen, wie mit Marionetten? Hat er nicht Pharao dazu gezwungen sein „Herz zu verhärten“ und nicht auf ihn zu hören? Kann er des Menschen Willen nicht auch dazu beeinflussen, ihm Folge zu leisten? Ein ganz klares „Nein“ sagt uns das Judentum: „Alles ist in Gottes Hand, außer die Gottesfurcht.“ Alle Allmacht findet hier ihre Grenze, denn der freie Wille – ein Grundpfeiler des Judentums – ist nun einmal frei. (...)

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke