Januar 4, 2016 – 23 Tevet 5776
Let my mirror go!

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Ein philosophisches Selbstgespräch  

Von David Serebrjanik

Neulich habe ich einen krassen Fall von Diskriminierung erlebt. Mitten in Deutschland. Ich stand in dunklen Träumen vor dem Spiegel und plötzlich schrie mich mein Spiegelbild im akzentfreien Deutsch (wobei er meinen russischen Namen ebenfalls akzentfrei, das heißt mit schwerem deutschen Akzent aussprach) an: „Serebrjanik, raus nach Palästina!“

Ich war dermaßen geschockt, dass ich einen Schock bekam. Nichts verstehend stand ich da und sah mein Spiegelbild an. Als mir klar wurde, dass dieses gerade tatsächlich mit mir gesprochen, nein, mich diskriminierend beleidigt hat, fragte ich es mit leiser und heiserer Stimme:

„Ähm... Nach Palästina?“
„Jawohl“, brüllte das Ding mich an, „oder wie es sonst bei euch da unten heißt!“.
„Israel heißt es“, sagte ich sichtlich gereizt und wollte mich umdrehen und gehen, doch da schrie das
Spiegelbild:
„Halt! Sofort stehen bleiben! Bleib stehen, oder ich schieße! Ich bin noch nicht fertig!“
„Du bist ziemlich fertig“, entgegnete ich, „und anscheinend geisteskrank auch noch dazu. Was willst du von mir?“
„Ich will, dass ich deine jüdische Fresse hier nicht mehr sehe“.
„Du bist ein Arschloch“, sagte ich zu ihm, „genauso eine jüdische Fresse hast auch du“.
„Was!?“, schrie das Spiegelbild.
„Ja“, sagte ich zu ihm, „schau dich mal im Spiegel an. Vergessen? Ich und du machen beide einen
ganzen Juden aus. Zwei Halbjuden – ein ganzer Jude.“
„Sowas darfst du nicht sagen“, rief der Mann im Spiegel, „das ist Nazi-Jargon“.
„Ja, und wie hast du gerade mit mir gesprochen?“
„Ich wollte provozieren“, sagte das Ding beleidigt.
„Provozieren wolltest du? Und wozu?“
„Das liegt bei uns Spiegelbildern halt in der Natur zu provozieren.“
„Das tust du schon zu genüge auch ohne zu reden, sei unbesorgt.“

Das Spiegelbild schmunzelte verstohlen. Es stellte sich nach dem heftigen Anfang so etwas wie eine
quasifreundliche Atmosphäre zwischen uns ein. Ich sah es auch nicht ganz ohne Sympathie an. Schau an,ein Provokateur. Lebt seit 17 Jahren in jenem Paradies, das Deutschland heißt und kommt mir hier mitantisemitischen Parolen.

„Und warum wolltest du mich provozieren?“, fragte ich vorgetäuscht uninteressiert.
„Weil du völlig schläfrig und bescheuert geworden bist. Du lebst wie auf Autopilot und merkst nicht, was um dich herum passiert.“
„Nicht schlimm, ich bin in guter Gesellschaft. Manch ein Großer hat sein Leben so verbracht...“
„Idiot“, ertönte es aus dem Spiegel, „lass uns nach Israel gehen“.
Da traf er mich an der empfindlichen Stelle. Schon seit einigen Jahren spiele ich mit dem Gedanken, endlichden einzig richtigen Schritt in meinem Leben zu tun und dorthin zu gehen, wo zuhause ist.
„Hör mal, Entspiegelung“, sagte ich etwas theatralisch, „das ist ein großer Schritt. Den bin ich schon ein paar Mal beinahe gegangen. Es wurde mir jedes Mal schwindlig.“
„Ja, dann bleib wo du bist. Und mach weiter so. Du fühlst dich ja prächtig in Deutschland.“
„Prächtig fühlt sich der Mensch meistens nirgendwo. Und Deutschland ist ein tolles Land“, sagte ich,
bewusst werdend, wie wenig überzeugt es klang.
„Tolles Land. Ja.“, sagte das Spiegelbild und verstummte.

Mir wurde mulmig zumute. Ich ahnte, was jetzt kommt. Und es kam auch.
„Dieses tolle Land hat vor siebzig Jahren...“
„Fang jetzt nicht damit an“, schnauzte ich den Spiegel an, „du hast keine Ahnung, worüber du redest“.
„Ich vielleicht nicht, aber du.“
„Ich auch nicht. Man kann sich nicht ständig in der Geschichte suhlen. Das tun die Deutschen selbst
schon zu genüge.“

„Aber du suhlst dich in der Geschichte", sagte das Spiegelbild, „du fingst an, dich darin zu suhlen genauan dem Tag, als du mit deinen süßen 17 Jahren nach Deutschland kamst. Du fingst an, als du dir selbst festund entschlossen gesagt hast, dass Deutschland sich in ein modernes, weltoffenes und freundliches Landverwandelt hat und dass man verzeihen können muss und so weiter – was sich halt jeder Jude, der damalsals ‚Kontingentflüchtling‘ nach Deutschland kam, eingeredet hat. Und das stimmt ja alles. Deutschland ist zueinem vorbildlichen demokratischen Land geworden. Nicht ohne Hilfe von Amerika, freilich, aber immerhin.“

„Jetzt wirst du albern und zynisch“, sagte ich zu ihm.
„Ja! Zynisch ist pfui! Zynisch wird hierzulande mit Vorliebe jemand genannt, der pointiert und witzig
formuliert. Broder z.B. ist voll zynisch, qell?“
„Ich bewundere Broder“, sagte ich zu ihm.

„Das ist deine Sache. Aber was ich eigentlich sagen wollte ist, dass dein Suhlen nie aufhört. Es fing
damals vor 17 Jahren an und machte sich zum ersten Mal bemerkbar, als du in irgendeiner GesellschaftKlavier gespielt hast (was du ja immer noch nicht lassen kannst), alle dich angehimmelt haben, dasGespräch-Nach-Dem-Konzert sich entfachte und du offenherzig erwähntest, dass du Jude bist (damals wardir dein Vaterjudesein noch völlig schnuppe, du hast dich voll und ganz als Jude identifiziert). Und da kamirgendein blonder Herr auf dich zu und fragte, was du so über Israel und seine Verbrechen denkst. Da knalltees in dir zum ersten Mal. Da wurdest du sprachlos. Und die Sprachlosigkeit verstärkte sich jedes Mal, wennes einen weiteren solchen Knall gab. Irgendwann wurde dir, meinem Urheber, ziemlich klar, dass das dirunmöglich Erscheinende doch möglich ist, und es in Deutschland nachwievor einen Haufen Antisemiten gibt.Ja mehr noch, dass das ganze Land nach dem Krieg an einem Judenknax leidet. An einem anderenJudenknax als vor dem Krieg, aber eben an einem Judenknax!“

„Das ist alles ein allgemeines Zeug, das du laberst“, schrie ich verärgert, „du willst mich nur quälen undmir ein schlechtes Gewissen einreden. Ich mag die Deutschen, einige meiner besten Freunde....“
„Vooorsicht“, jauchzte die Entspiegelung, „Vorsicht, Junge! Das war knapp. Einige seiner besten Freunde!Jetzt redet der schon wie ein deutscher Antisemit, nur umgekehrt.“
„Nun gut, wer bist du denn?“
„Wer ich bin? Dein jüdischer Deutschenknax. Und übrigens, was das Einreden des schlechten
Gewissens betrifft, das hast du auch ganz ohne mich“, antwortete der traute Fremde im Spiegel, „oder willstdu mir erzählen, dass du dich jedes Mal wohl gefühlt hast, wenn dich jemand gutmeinend fragte, wie es sofür einen Juden ist, heute in Deutschland zu leben und du irgendein nettes Zeug redetest, das vor allemdarauf zielte, dem Gutmeinenden seine Last der deutschen Geschichte zu erleichtern? Jeder, jeder Jude hatirgendwo in seinem Anderswo ein schlechtes Gewissen, in dem Land zu leben, das das angerichtet hat, wases angerichtet hat. Und das schlechte Gewissen wird mannigfaltig wegdiskutiert, wegradiert,ausgeklammert. Und ich sage nicht, dass dieses Ausklammern schlecht ist. Es hilft dabei, hier und jetzt zuleben. Aber dass es dieses schlechte Gewissen nicht gäbe, das bezweifele ich sehr!“

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Der Raum um mich hat sich unmerklich merklich verändert. Esstimmte nichts mehr, alles war irgendwie verrutscht, verschwommen, unscharf!

„Und wie ging es dir in den letzten paar Jahren?“, fragte der Mann hinter der silbernen Glasscheibe
scharf, „wie ging es dir letzten Sommer, als in Deutschland ‚Juden ins Gas!‘ gerufen wurde? Wie ging es dir,als ein Davidstern mit einem Hakenkreuz angereichert auf einer Internetseite der Duisburger ‚Linkspartei‘ auftauchte? Wie ging es dir, als eine Freundschaft zerbrach, weil der Freund, ein alter 68er dir lautstark,besserwisserisch und arrogant einzutrichtern versucht hat, dass Israel ein Verbrecherregime ist, das genaudas tut, was die Nazis taten? Hattest du da nicht die Wut, diese verzweifelte Wut gespürt? Hast du nicht dasVerlangen gespürt, ihm ein ‚Du elender Antisemit!‘ entgegenzuschleudern? Hast du dann nicht fast denVerstand verloren, als du verstanden hast, dass das deutsche Märchen 1933-1945 in manchenMenschen weiterlebt? Mach es dir mal bequem, ich kann die nächste halbe Stunde weiter aufzählen...“

„Hör auf“, sagte ich. Und ich verstand plötzlich, dass nicht er das meine, sondern ich zu seinem Spiegelbildgeworden bin. Ich hatte ein Verlangen, seine Bewegungen und Gesten nachzumachen. Ich schaute esmisstrauisch und unfreundlich an, so wie sonst es mich angeschaut hat. Ich war verwirrt und konnte keinenklaren Gedanken mehr fassen. Der Mann auf der anderen Seite des Spiegels hatte Recht. Ich hatte auch Recht. Alle hatten irgendwie Recht. Das war richtig postmodern. Oder wie in dem guten alten Witz. Aber eswar kein Witz. Es war die neue Realität. Dann drehte sich der Mann vor dem Spiegel um und ging weg.

David Serebrjanik wurde in Usbekistan als sogenannter sowjetischer „Vaterjude“ geboren und arbeitet heute in Südwestdeutschland als Pianist.

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