Vor 150 Jahren kam Isaak Itkind auf die Welt 

Von Juri Perewersew

Der Dokumentarfilm „Das Berühren der Ewigkeit“ (Russisch: Prikosnowenije k wetschnosti) des jungen Regisseurs Ararat Maschanow, welcher 1967 in „Bolschewo“, dem „Haus der Kreativität für Filmemacher“ im Moskauer Gebiet gezeigt wurde, sorgte für Furore. Es stellte sich heraus, dass der Held des 20-minütigen Streifens, Isaak Jakowlewitsch Itkind, ein großer in Vergessenheit geratener Bildhauer des 20. Jahrhunderts, gar nicht – wie allgemein angenommen – im Jahre 1938 gestorben war. Im Film agierte Itkind, ein quicklebendiger, kleiner und fitter 96-Jähriger mit einem grauen Vollbart, emsig zwischen seinen Skulpturen, während die funkelnden Augen einiges über seine schelmisch-jugendliche Seele verrieten.

Wenn ein berühmter Mensch vergessen werden soll
So wurde Itkind „wiederentdeckt“. Schnell verbreitete sich die Neuigkeit in den Künstlerkreisen von Moskau und Leningrad (Sankt Petersburg), wo man sich wieder daran erinnerte, dass Itkind, dessen Skulpturen in Museen in Frankreich, Westdeutschland und den USA ausgestellt sind, in den 1930er Jahren genauso berühmt war wie die Künstler Chagall, Ersja oder Konjonkow. Seine Meisterwerke ruhen in der Heimat, in den Abstellräumen des Russischen Museums von Leningrad und in solchen des Puschkin-Museums von Moskau. Gerüchte darüber, dass Itkind noch am Leben sei, machten aber schon früher die Runde. Nikolai Muchin, ein Künstler aus dem kasachischen Alma-Ata, soll dem Bildhauer angeblich im Jahr 1944 begegnet sein. Muchin habe versucht, ihn zu unterstützen, was jedoch zu keinem Erfolg führte, da Itkind als „Volksfeind“ gebrandmarkt worden war. Wegen einer solchen Stigmatisierung haben viele den einst so Berühmten zu vergessen versucht.

Der angehende Rabbiner in Jiddischland
Isaak Itkind wurde am 9. April 1868 geboren – worauf er schwor, obgleich in seinen Dokumenten das Jahr 1871 angegeben wurde. Er erblickte das Licht der Welt in dem chassidischen Schtetl Smorgon im damals russischen Gouvernement Wilna (heute heißt das Dorf Dikarki und liegt in Weißrussland). Der Vater war Rabbiner und Isaak sollte eigentlich in seine Fußstapfen treten. Er besuchte sogar erfolgreich die Jeschiwa und befand sich auf bestem Wege Rabbiner zu werden.

Doch da schlug der 26-jährige Isaak ein Buch über den berühmten Bildhauer Mark Antokolski auf, in dessen Reliefs „Der Schneider“ und „Abendliche Arbeit eines Greises“ er seine Leute aus dem Schtetl wiedererkannte. Itkind ließ die Thora links liegen und beschloss sich der Bildhauerei zu widmen. Für die Chassidim von Smorgon war er bald ein Abtrünniger, die Alten spuckten sogar in seine Richtung. Eines Tages aber stand der Schriftsteller von Smorgon, Perez Hirschbein, vor der Haustür der Itkinds. Hirschbein bestaunte schweigsam die Skulpturen, verschwand und brachte wenige Tage später einen Zeitungsartikel über den Wunderknaben, der Meisterwerke schafft, heraus. Die Chassidim, die ihn so verachtet hatten, sandten plötzlich einen Auserwählten, der mit dem Artikel im Schtetl von Haus zu Haus lief, um Geld für diesen „Schlimasel“ namens Isaak zu sammeln, damit er studieren konnte.

Die Bildhauer-Karriere beginnt
1910 begann Itkind an der Kunsthochschule von Wilna zu studieren, anschließend von 1912-1913 an der Hochschule für Skulptur und Architektur in Moskau, in einem privaten Atelier des Bildhauers und Wandmalers Sergej M. Wolnuchin. Die Werke, die Itkind bis 1917 angefertigt hat, widmeten sich dem Thema Trübsal („Bitteres Gelächter“, „Der Wahnsinnige“, „der Moralist“). Sein Lieblingsmaterial war Holz. Der Kaufmann Sawwa Morosow bestellte seine Werke, und Maxim Gorki organisierte für ihn im Jahr 1918 eine Einzelausstellung im jüdischen Habimah-Theater. Von den 42 ausgestellten Skulpturen sind drei erhalten geblieben: „Mein Vater“, „Der Buckelige“, „Die Melodie“. Itkind arbeitete damals sehr hart und schuf, so wie er es sagte, seine besten Kunstwerke („Mein Vater“, „Der Rabbiner“, „Die Sehnsucht“, „Der Talmudist“, „Der Zaddik“, „Jüdische Melodie“, „Der Kabbalist“).

Der freiwillig Armgebliebene
Während eines Besuchs der Ausstellung, schlug der Bruder des US-Präsidenten Theodore Roosevelt Itkind vor nach Amerika auszuwandern, wo er Millionär werden könne. Doch der Künstler hielt nichts davon, meinte, nach der Revolution fühle er sich als Jude endlich wie ein normaler Mensch (obwohl er ständig Hunger litt und nur Dank Gorkis Bemühungen, den Gesprächen mit Lunatscharski, dem sowjetischen Volkskommissar für das Bildungswesen, „Professoren-Rationsgutscheine“ für Brot und Stockfisch erhielt). Später unterrichtete Itkind zusammen mit Mark Chagall an einer jüdischen Arbeitskolonieschule für obdachlose Kinder im Moskauer Gebiet.

Im Jahr 1926 bekam es Itkind mit Bluthusten zu tun. Er hörte auf den Rat des Schauspielers Michoels und begab sich auf die Krim, wo er aber ziellos umherirrte und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug. Doch von dort brachte er auch die atemberaubende Skulptur mit dem Namen „Pogrom“ mit, die er auf irgendeinem Dachboden hergestellt hatte. Dann war da die Sache in Leningrad, wo Itkind skulpturale Porträts von Lenin, Marx, Engels und Lassalle anfertigte, sowie drei Porträts von Puschkin, die bei einem Wettbewerb mit dem 1. Preis ausgezeichnet wurden. Das eigenartige Triptychon bestand aus der Skulptur eines jungen Puschkin und zwei weiteren Porträts von ihm: das eine zeigte den Dichter in den letzten Jahren seines Lebens, das andere stellte ihn sterbend dar. Es wurde von den zeitgenössischen Begutachtern als phänomenale Arbeit gewürdigt.

Presse-Ruhm
In diesen Jahren war Isaak Itkind so berühmt wie es heute Chagall und Picasso sind. 1930 erschien in der Zeitung „Krasnaja Gaseta“ ein Artikel über ihn. Der Autor schrieb: „Ich sah bei dem Bildhauer eine Fotografie von ‚Pogrom‘, einer großen Skulpturengruppe, die während eines Feuers in seiner Werkstatt verlorenging. Wirklich eine bemerkenswerte Ausdrucksform. Draußen aufgestellt hätte das starke Kunstwerk im Kampf gegen den Antisemitismus mehr bewirken können als zigtausend moralische Argumente gegen ihn.“ Es folgten noch viele dramatische Schlagzeilen wie: „Der hungrige Bildhauer“ oder „Der Künstler, dem geholfen werden muss“.

Aber Itkind war nicht nur ein hervorragender Bildhauer, nein, er war auch ein begnadeter Geschichtenerzähler, obwohl er es nie ganz gelernt hatte in Russisch zu schreiben. Seine mündlich vorgetragenen Stories mit dem unvergleichlichen jiddischen Akzent amüsierten die Schreibtalente Maxim Gorki, Wladimir Majakowski, Sergej Jessenin wie auch die Schauspieler Wsewolod Meyerhold und Wassili Katschalow. Sie alle wurden zu seinen Freunden. Und sie überredeten ihn seine Erzählungen aufschreiben zu lassen. Bis heute erhalten geblieben sind aber nur die Erzählungen Itkinds, die Alexej Tolstoi im Jahr 1934 im Journal „Swesda“ veröffentlicht hat. Das war die Zeit, als Lunatscharski und Kirow den Künstler tadelten, während seine Ausstellungen zum einem Bestandteil des kulturellen Lebens im Land wurden.

Stalinsche Säuberungen und Verhaftung
Im Jahr 1937 wird Itkind, der Spionage beschuldigt, festgenommen. Angeblich hatte er streng geheime Informationen der Baltischen Kriegsflotte an Japan verkauft, wird er später erzählen.

Kurz vor seinem Tod erzählte Itkind auch von seinem Aufenthalt im Gefängnis von Lubjanka: „Überlebt habe ich nur deshalb, weil ich so einen guten Beruf habe. Täglich gaben die mir eine Scheibe Schwarzbrot. Am Morgen gaben die mir eine … aber dieses Brot rührte ich bis in die Nacht nicht an. Den ganzen Tag knetete ich Figürchen aus diesem Brot. Nur spät Abends vor dem Zubettgehen aß ich dieses Brot. Am kommenden Tag schlugen die mich wieder, aber Brot gaben die einem trotzdem. Und darum konnte ich den ganzen Tag modellieren, brauchte nicht an die zu denken. Verstehen Sie? Ich brauchte an die nicht zu denken! Die wollten mir Angst einjagen, aber ich dachte nicht an Angst, ich modellierte. Und diejenigen, die den ganzen Tag daran dachten, die beschuldigten dann sich selbst, gestanden, dass sie Spione sind oder mit dem Gedanken spielten, Stalin zu töten. Dann wurden sie gleich erschossen. Ich gestand gar nichts und wurde so nach Sibirien befördert…“

Aber was nützt schon ein gebrechlicher, kleiner alter Mann beim Holzfällen? Man brachte Itkind in ein Lager in Kasachstan, wo man ihn schließlich aufgrund des Alters in ein lebenslanges Exil entließ. Man verbot ihm jemals wieder nach Moskau zurückzukehren.

Ein Erdloch am Stadtrand von Alma-Ata
Als ihn Nikolai Muchin in Alma-Ata entdeckte, hauste er in einem ausgehobenen Erdloch am Stadtrand. Es ist unklar, wie Itkind dort gelebt, von was er sich ernährt hat, doch er tat ganz offensichtlich weiterhin, was er liebte: in der Nähe des Erdlochs lagen einige Holzstümpfe mit Meißelspuren herum. Muchin traute sich in die Erdhöhle und holte eine Holzskulptur hervor. Es handelte sich dabei um eine Vorlage für Itkinds Werk „Der lachende Greis“, das in zwanzig Jahren zu einem der berühmtesten Kunstwerke des Bildhauers werden sollte.

Erst nach dem Tod Stalins beschlossen die Direktoren des kasachischen „Chudfonds“ (eines sogenannten Kunstfonds der Sowjetunion, dessen Aufgabe darin bestand, kreative Tätigkeiten zu fördern und die materielle Situation der Mitglieder zu verbessern) den Gerüchten um einen Greis nachzugehen, der im Außenbezirk der Stadt hausend, aus Baumstümpfen sagenhafte Figuren kreiert. Auf dem Ödland angekommen, entdeckten die Künstler ein Erdloch, aus dem ein leichtes Klopfen erschallte. Auf ein lautes „Hey!“ kroch ein kleiner, grauhaariger alter Mann aus dem Loch. Er hörte schlecht, als er aber merkte, dass die ungebetenen Gäste wissen wollten, wer er sei, nannte er seinen Nachnamen. Die Künstler erstarrten vor Schreck.

Leben in Kasachstan
Im Jahr 1956 besorgte man Itkind eine Stelle, allerdings eine schlecht bezahlte, im Staatstheater von Alma-Ata. Dort hatte er auch seine Unterkunft – ein Bett unter einer Treppe, wo Pförtnerin Sonja Jefimowna sich an dem Ofen wärmte. Tagsüber malte er Landschaften, nachts begab er sich dann mit Meißel und Hammer in den Keller. Niemand außer Sonja Jefimowna hörte das Klopfen seines Hammers. Sie wurde seine Frau, trotz des Altersunterschieds von dreißig Jahren! Seine erste Ehefrau war gestorben als er noch „Volksfeind“ war. Irgendwo lebt auch ein Sohn...

In seiner Freizeit ging Itkind gern am Stadtrand von Alma-Ata spazieren und brachte mithilfe von Lastwägen viel Treibholz in den Theaterkeller. Schon bald wusste ein jeder Autofahrer in Alma-Ata von dem Exzentriker, der für den Transport von Treibholz mit Rubel und Wodka zu zahlen bereit ist. Das Treibholz im Theater kam aus den unterschiedlichsten Gegenden Kasachstans. In dem Keller schuf er bekannt gewordene Kunstwerke wie „Paul Robeson“, „Der Denker aus Holz“, „Das Lied“ und andere. Junge Künstler zog es in den Keller, um die Berühmtheit zu sehen, die von den Toten auferstanden war. Der junge und aktive kasachische Dichter Olshas Suleimenow und einige andere bekannte Schriftsteller und Künstler begannen sich dafür einzusetzen, dass der Künstlerverband der UdSSR den alten Mann aufnimmt. Dies geschah dann im Jahr 1968, nach dem Erscheinen des Dokumentarfilms „Das Berühren der Ewigkeit“. Isaak Itkind hatte seine Würde und Anerkennung, die ihm der Staat einst nahm, wiedererlangt. Doch er blieb in Kasachstan, wurde noch im selben Jahr zum Verdienten Künstler der Kasachischen SSR, erhielt später einen Preis vom Zentralkomitee des Komsomols (Kommunistischer Jugendverband) der Republik und sogar eine Zweizimmerwohnung.

Bis zum 14. Februar 1969, als Itkind im Alter von 98 Jahren verstarb, war es ihm gelungen, eine weitere Reihe bildhauerischer Porträts zu schaffen. Darunter fallen solche wie „Akyn Dschambul“, „Amangeldy“ oder „Abai“.

In den letzten Monaten seines Lebens diktierte er erneut, wie vor mehr als 30 Jahren, sein letztes Buch – über den Sinn des Lebens. Er sagte: „Der Mensch muss arbeiten, seiner Beschäftigung nachgehen – ob im Lager oder im Gefängnis, das spielt keine Rolle. Denn dann lebt er. So hat es die Natur gewollt. Oder Gott hat es so gewollt … Ja, ich denke nun viel über die Natur und Gott nach, über den jüdischen Gott, vor dem ich vor 70 Jahren davongelaufen war …“

Übersetzt aus dem Russischen von Edgar Seibel

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke