August 7, 2014 – 11 Av 5774
«Im Wald»

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von Marcel Möring 

Das allseits bekannte psychologische Konzept von der jiddischen Mamme, die ihre Kinder Zeit ihres Lebens mit zärtlicher, aber allzu eifersüchtig-fordernder, kämpferischer Liebe bis weit über die Schwelle des Erwachsenseins vor allen tatsächlichen und eingebildeten Widrigkeiten des Lebens beschützt und jene in der unbewussten Kenntnis vom Nutzen ihrer eigenen psychischen Gebundenheit nie- mals loszulassen vermag, ist ein unverwüstlicher Mythos, der längst festen Eingang in den internationalen Sprachwortschatz gefunden hat. In Marcel Mörings neuem, sprach- und bildmächtigen Roman, dessen Titel unwillkürlich noch einmal das furchtbare Waldversteck seines von den Nazis verfolgten Protagonisten im vorherigen Buch vor Augen ruft, wagt der 1957 geborene Schriftsteller aus Enschede eine scheinbar ungewöhnliche Konstellation, indem er einen alleinerziehenden Intellektuellen zu einer Art jiddischer Mamme macht, dessen langwierigen Weg zurück in ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben er auf gewohnt weltläufige, philosophische und anspielungsreiche Art und Weise als packende biographische Detektivarbeit gestaltet. Die Einsamkeit des Marcus Kolpa scheint dabei allumfassend: seine Mutter, eine Überlebende der Schoah, die Zeit seiner Kindheit und Jugend stets in bitteren Erinnerungen versunken war, entdeckt eines Tages plötzlich die un- beschwerte Lebensfreude und emigriert nach Israel, wo sie ihren Familiennamen in «Polak» ändern lässt. Kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Rebecca verschwindet zudem in Gestalt seiner geliebten Frau Chaya die einzige Person spurlos, die in ihm jemals eine Art von lebensbejahender Weltoffenheit auszulösen vermocht hatte. Der angehende Schriftsteller sublimiert seinen Verlust in ein allseits hochgelobtes Buch, macht eine beträchtliche Erbschaft und zieht mit seiner kleinen Tochter in ein einsames Haus im Wald, wo er im Unbewußten seiner ereignisarmen, unproduktiven Existenz sowie der selbstgestellten mütterlichen Aufgabe zu versinken scheint. Rebecca jedoch ist von Anfang an ein unabhängiges Kind, das schon im Alter von zehn Jahren verkündet, dass sie bildende Künstlerin werden wolle.

Die Neuerscheinungen wurden vorgestellt von FLORIAN HUNGER

«Im Wald», aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen, erschienen bei Luchterhand, 511 Seiten, €22,99

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