Januar 11, 2018 – 24 Tevet 5778
Grunewald im Orient

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Das deutsch-jüdische Jerusalem  

Von Matti Goldschmidt

Der promovierte Literaturwissenschaftler und Autor des vorliegenden Buches, Thomas Sparr, wurde 1956 in Hamburg geboren. Von 1992-1998 verantwortete er das Programm des Jüdischen Verlages im Suhrkamp Verlag, wobei sein Fokus u.a. auf den Werken von Gershom Scholem, Else Lasker-Schüler und Paul Celan lag. Später wurde er Co-Geschäftsführer des Suhrkamp wie auch des Insel-Verlages. In den Jahren davor erhielt er nicht nur Lehraufträge an der Universität Hamburg oder der Ecole Normale Supérieure in Paris, sondern auch ab Herbst 1986 über drei Jahre an der Hebräischen Universität in Jerusalem, was ihn, 30 Jahre später, zu einer – ganz wertfrei – weit ausschweifenden Beschreibung des Jerusalemer Stadtteils Rechavia bewegte.

Die Weite Gottes
Der Name dieses Stadtvierteles besteht aus einer Kombination der hebräischen Worte für Weite (rochav) und Gott (Yah), somit wörtlich „die Weite Gottes“. Nicht in Erfahrung zu bringen war, wie dieser neu zu errichtende Vorort überhaupt zu seinem Namen kam, d.h. welches Komitee nach welchen Kriterien zu einer Entscheidung gelangte – da half selbst die Encyclopedia Judaica nicht weiter (die übrigens Reḥavyah buchstabiert, das Wort für Gott klarer hervorhebend). Letztendlich entstand das Stadtviertel auf dem Reißbrett des 1920 nach Palästina eingewanderten Architekten Richard Kauffmann (1887-1958), dem anfangs in Jerusalem eine leitende Position im gerade gegründeten Planungsbüro der Zentralstelle für Besiedlungsangelegenheiten in Jerusalem, später die Palestine Land Development Company (PLDC), angeboten wurde. Bereits zwei Jahre darauf wurde Kauffmann, an seiner Seite Lotte Cohn (1893-1983, ab 1921 in Palästina), mit der Gestaltung einer Gartensiedlung auf einem Gelände beauftragt, das die PLDC kurz zuvor, nämlich am 12. Juni 1922, von der griechisch-orthodoxen Kirche erworben hatte. Es gäbe „unter sozialen, gesundheitlichen, moralischen und künstlerischen Gesichtspunkten“ keine bessere Siedlungsform als eine Gartenstadt, die „Licht, Luft und Grün böten“. Außerdem sollten große Gärten eine dörflich ruhige Atmosphäre ausstrahlen.

Jerusalem in den 1930er Jahren
Wie muss man sich das Rechavia von damals vorstellen? In den Worten der Berliner Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit (1894-1982), insbesondere bekannt durch den 1931 veröffentlichten Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, auch wenn sie lediglich ab 1933 nur kurze fünf Jahre in Palästina lebte: Villenstadt der Wohlhabenden, moderne Häuser, mit weißgrauen Quadern aus dem Stein der Landschaft, mit Vorgärten, flachen Terrassendächern, schlitzförmigen Loggien, Zentralheizung, Fliegennetzen, steinernen Fußböden für den glühenden Sommer… Vor knapp hundert Jahren las sich das in einem deutschen Werbeprospekt dann wie folgt: „Ruhige kühle Lage, Garten und Dachterrasse, schöne, moderne Zimmer mit fließendem Wasser“ und vor allem „mäßige Preise“. Neben den reinen Wohneinheiten gab es aber auch, beschränkt auf zwei Hauptstraßen, einen vielfältigen Einzelhandel, wie beispielsweise ein Hutgeschäft, Meislers Elektroladen, verschiedene Buchläden (im Buchladen von Ludwig Mayer, 1879-1978, im Jahre 1908 aus Prenzlau eingewandert, seit 1935 in der Shlomzion-Hamalka-Straße nahe dem Hauptpostgebäude ansässig, konnte ich noch bis vor etwa fünfzehn Jahren in akzentfreiem Deutsch bedient werden), ein Kino (seit mindestens zwei Jahrzehnten gibt es jedoch im Zentrum Jerusalems kein einziges Kino mehr), unabdingbar mehrere Modegeschäfte sowie einen Eisenwarenhandel.

Deutsch als lingua franca
Alsbald gründeten die in Rechavia lebenden Deutschen eigene Bürgereinrichtungen, darunter beispielsweise auch Hebräischkurse. Für die gut besuchten Vorlesungsreihen konnte etwa nicht nur Martin Buber mit Vorträgen über die Grundlehren des Chassidismus gewonnen werden; in ihren Fachgebieten wirkten u.a. auch der Philosoph Samuel (Schmuel) Hugo Bergmann (1883-1975, ab 1919 in Palästina), der Orientalist Fritz (Shlomo Dov) Goitein (1900-1985, ab 1924 in Palästina), der Religionsphilosoph Yitzchak (Julius) Guttmann (1880-1950, ab 1934 in Palästina), der Historiker Richard Koebner (1885-1958, ab 1933 in Palästina) oder auch der Religionshistoriker Gerhard (Gershom) Scholem (1897-1982, ab 1923 in Palästina). In jedem Falle blieb Deutsch, vor allem in privaten Gesprächen, die lingua franca der Einwanderer aus Mitteleuropa. Nicht etwa aus inniger Verbindung zu Deutschland, da wäre wohl eher das Gegenteil der Fall gewesen, sondern weil es einfach die natürliche Sprache war, in der sich alle, auch sehr gute Hebraisten wie Gershom Scholem, am Besten auszudrücken vermochten. Konfektionsmäßig hielt man ebenfalls am Gewöhnten fest: So trugen die mitteleuropäisch geprägten Herren vor nun eher orientalischer Kulisse weiterhin nach wie vor Anzug mit Schlips und Kragen, während die Damen in Kostümen durch das neu entstandene Viertel flanierten.

Schnitzel vs. Arabische Küche
Was das Kulinarische betreffen sollte, so wurde in Rechavia typisch deutsch gekocht: Etwa Spinat mit Bratkartoffeln und einem Spiegelei oder Würstchen mit Senf und Kartoffelsalat. Hähnchenbrust wurde flachgeklopft und paniert als „Wiener Schnitzel“ angeboten. Entsprechend blieb die arabische Küche für die meisten Jeckes über Jahrzehnte tabu. Lediglich mit dem Obst in Form von frischen Orangen, Zitronen, Bananen, den bis dato unbekannten Kakifrüchten oder auch frühen Erdbeeren sowie dem Gemüse (neben den bekannten Tomaten, Gurken oder Blumenkohl nun auch Auberginen und Avocados) näherte man sich seinem neuen nahöstlichen Umfeld. Selbstverständlich gab es auch eine reiche Auswahl an deutscher Backkunst: Außer dem Käsekuchen durfte insbesondere die geliebte Schwarzwälder Kirschtorte niemals fehlen. Gerhard (Gad) Granach (1915-2011, ab 1936 in Palästina) erzählt in einem Zeitungsartikel aus dem Jahre 2007: „Für die Jeckes war das Atara ein Stück Heimat. Man ging ins Café, um zu sehen und gesehen zu werden. Jeder kannte jeden. Oben, im ersten Stock des alten Atara, saßen die Jüngeren. Die Älteren, die die Treppen nicht mehr schafften, saßen unten. Und jeder hatte „seine“ Kellnerin. Das waren keine kleinen Aushilfsmädchen, sondern gestandene Frauen, die oft jahrelang dort gearbeitet haben“.

Mit Schreibmaschine ins Kaffeehaus
Im kleinen Zentrum der Stadt, vor allem in der Ben-Jehuda-Straße, waren die Kaffeehäuser streng nach Nationalitäten aufgeteilt; Ungarn, Polen oder Jeckes saßen eher nicht zusammen. Die Kaffeehäuser, die, analog zu deutschen Lesezirkel, allesamt mit vielerlei an aktuellen Tageszeitungen und Illustrierten aufwarteten, hatten Namen wie Café Alaska, Café Vienna, Café Sichel oder Café Europa; das Café Hermon beispielsweise bot auf einer Werbetafel in deutscher Sprache „Eis, Kuchen und Sahne frei Haus“ an, außerdem einen „schönen Garten“ sowie „die bekannten Erfrischungen“. Heute jedoch existiert seit bereits mehreren Jahrzehnten kein einziges dieser Treffpunkte mehr; als Letztes schloss das Café Atara. Mit Wehmut sind die Tage in Erinnerung gebracht, an denen Intellektuelle ihre mechanischen Schreibmaschinen mitschleppten, um in Gesprächspausen während ihrer stundenlangen Kaffeehausaufenthalte ihre Gedanken auf Papier brachten. Die Delikatessenläden wiederum hießen Sternschuß oder Futter, die unter anderem auch wunderbaren, dünn geschnittenen Schinken im Angebot hatten (arabische Christen, etwa aus Nazareth, sorgten für entsprechenden Schweinefleischnachschub); Koscheres gab es dort sicherlich nicht zu kaufen.

Prominente Namen
Im etwas umfangreicheren zweiten Teil des Buches beschreibt Sparr die Lebensläufe einiger der im Stadtteil Rechavia Sesshaften, unter denen die Namen von Gershon Scholem, dem marxistischen Schriftsteller George Lichtheim (1912-1973, von 1934-1945 in Palästina), den Literaturwissenschaftlern Ludwig Strauß (1892-1953, ab 1935 in Palästina) und Werner Kraft (1896-1991, ab 1934 in Palästina), der Sprachwissenschaftlerin Lea Goldberg (1911-1970, ab 1935 in Palästina), der Journalistin und Psychotherapeutin Anna Maria Jokl (1911-2001, ab 1965 in Israel) oder auch der Publizistin Hannah Arendt (1906-1975, 1961 während des Eichmannprozesses in Jerusalem) nicht fehlen sollten. Ein themenbezogenes Literaturverzeichnis schließt das Buch ab, andererseits wird ein Personenregister schmerzlich vermisst. Insgesamt jedoch handelt es sich mit dem vorliegenden Buch um eine flüssig zu lesende, informative Lektüre, die auch denjenigen Lesern das atmosphärische Leben eines Stadtteils Jerusalems durch die Jahrzehnte näherbringt, ohne darin jemals wissentlich einen Schritt gemacht zu haben.

Burger King
Denn heute, im Jahre 2018, ist aus dem auf ursprünglich kargen und felsigem Boden erbauten und schließlich begrünten Rechavia eine eher betonversiegelte Landschaft geworden: Viele der ehemals großangelegten Vorgärten mussten Hauserweiterungen oder provisorischen Parkplätzen weichen, die Gärten machen einen eher vernachlässigten Eindruck. Die an den heutigen Ansprüchen gemessenen viel zu eng angelegten, weil insbesondere ausschließlich zum Flanieren geplanten Straßen halten dem jährlich ansteigenden Durchgangsverkehr kaum mehr stand, die meisten Straßen wurden längst als Einbahnstraßen deklariert. Und die vormals breiten Bürgersteige, nun so schmal, dass kaum zwei Personen bequem nebeneinander gehen können, mussten weiteren Parkplatzmöglichkeiten weichen – an Tiefgaragen in einer „Gartenanlage“ hatte man um 1930 natürlich auch nicht im Entferntesten gedacht. Schließlich verpesten laut vorbeifahrende Autobusse wie die Linien 9, welche die beiden Universitätsgelände Mount Scopus und Giv’ath Tam verbindet, oder 19 mit ihren Dieselmotoren die Luft. Aus dem vor knapp hundert Jahren erträumten Licht, Luft und Grün in dörflicher Atmosphäre ist ein zentral gelegenes Stadtviertel geworden, das im Prinzip, zumindest außerhalb der zwischenzeitlich parzellierten Wohnungen, von Autos beherrscht wird. Innerhalb der eigenen vier Wände wird heute praktisch nichts mehr in deutscher Sprache gesprochen, Rechavia ist längst hebraisiert. War allerdings nicht genau dies das damals vielleicht utopisch anmutende Ziel der deutschen Einwanderer, sich nämlich nurmehr auf Hebräisch zu unterhalten? Selbst das bereits mehrfach erwähnte Café Atara in der Ben-Jehuda-Straße wurde letztlich von Burger King übernommen – allerdings für überwiegend Englisch sprechende Touristen.

Die deutschen Templer
Bedauerlich, dass die Welt der deutschen Templer, vormals in der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rechavia gelegenen, nach ihnen benannten Deutschen Kolonie (Hamoschavah Hagermanith), in Sparrs Berichten nur in zwei Nebensätzen Erwähnung fand. Zweifelsohne bildeten auch sie mit ersten Siedlungsversuchen ab 1870, also noch gut vor Beginn des modernen Zionismus, einen Teil des deutschen Jerusalems, auch wenn er, ganz im Einklang mit dem Buchttitel, nicht unter „deutsch-jüdisch“ fällt und es wahrscheinlich so gut wie keine Berührungspunkte innerhalb dieser beiden Gruppierungen gab, sieht man von den rein technischen Aspekten wie Sprache und Herkunft ab. Schließlich handelte es sich bei vielen Templern während der Nazizeit auch in Palästina um offen bekennende Nationalsozialisten, selbst wenn sie sich wiederholt vom Antisemitismus zu distanzieren versuchten. Die eine Hälfte der weit über eintausend in Palästina lebenden Templer wurde 1941 in Australien interniert, die andere musste spätestens mit der Staatsgründung Israels wieder zurück in die ursprünglich württembergische Heimat. Allerdings kam der Staat Israel nicht umhin, 1962 im Rahmen der sog. Wiedergutmachungsverhandlungen für das konfiszierte palästinadeutsche (Templer-) Eigentum rund 54 Millionen D-Mark als Entschädigung aufzubringen.

Thomas Sparr
Grunewald im Orient – Das deutsch-jüdische Jerusalem
Berlin 2018 (184 S., Berenberg Verlag, € 22,00)
ISBN 978-3-946334-32-3

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