Die Natur familiären Zusammenlebens
hat sich in unserer Gesellschaft so signifikant
verändert, dass die Erinnerung an den
Einzelnen selbst in der eigenen Familie oft
schon im Verlauf der nächsten Generation
unwiderruflich verloren zu gehen droht:
«Wer bewahrt, was [der Mensch] an Hoffnung
und Glücksversprechen verkörpert
hat, und macht schmerzhafte Erinnerungsbilder
erträglich?» Diese universelle Frage
stellt der Klappentext völlig zu
Recht: was vom Menschen bleibt,
besonders von den zahlreichen aufgrund
ihrer jeweiligen Zeitumstände
im Verlauf des furchtbaren 20. Jahrhunderts
Totgeschwiegenen oder gar
Ermordeten, war von Anfang an das
große singuläre Thema des österreichischen
Schriftstellers Erich Hackl,
dem es in seinen zahlreichen eindrücklichen
biografischen Recherchen
stets auf unnachahmliche Art
und Weise gelungen ist, diesen Vergessenen
eine eigenständige, unverkennbare
Stimme zurückzugeben,
die überall und von jedem vernommen
werden kann. Gerade in seinem
neuen Buch, das zwei ältere Texte
sowie einen ganz neuen erstmals in
Buchform zugänglich macht, wird
seine besondere Arbeitsweise vorbildlich
deutlich: kleine, nebensächlich
erscheinende Details, die unsere
Aufmerksamkeit im Alltag vermutlich
nicht zu fesseln vermögen oder
gar zum Wegsehen verleiten würden,
nimmt Hackl mit geschultem Blick zum
willkommenen Anlass, eben doch genauer
hinzuschauen und mit ehrlich empfundener
Empathie und archäologischer Präzision
die von den Umständen verschütteten Lebensläufe
freizulegen. Der stärkste Text des
Buches ist «Der Fotograf von Auschwitz»
über den – nach Nazi-Diktion – «reichsdeutschen
Arier» Wilhelm Brasse, der lieber
seine angestammte polnische Staatsbürgerschaft
behalten wollte und in Auschwitz Fotos
der Häftlinge und der verbrecherischen
medizinischen Experimente sowie auch
Porträt- und Gebrauchsfotos von Offizieren
und Wachmannschaften anfertigen musste.
Aufgrund der durch den Sucher seiner Kamera
gesehenen Dinge konnte Brasse seinen
Beruf nach dem Krieg nicht mehr ausüben,
war jedoch bis zu seinem Tod als viel befragter
Zeitzeuge aktiv und wurde am Ende
seines Lebens sogar noch zum Helden eines
bewegenden Dokumentarfilms.
Erich Hackl, «Drei tränenlose Geschichten»,
erschienen bei Diogenes, 154 Seiten, € 18,90
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