Von Jerome Lombard
Sie stammen aus Brasilien, der Ukraine, den Vereinigten Staaten und Israel: Die jüdische Community in Berlin und Deutschland ist heute vielfältig und bunt. Viele der rund 60.000 in der Hauptstadt lebenden Menschen jüdischer Herkunft haben einen Migrationshintergrund. Zwölf von ihnen stellen sich derzeit in einer Sonderausstellung in der Stiftung Neue Synagoge-Centrum Judaicum in Berlin vor.
„Berlin ist eine tolle Stadt, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert“, sagt Greta Zelener. Die 27-Jährige ist in Charlottenburg als Kind sogenannter „Kontingentflüchtlinge“ aufgewachsen. Im Kiez ist sie zur Schule gegangen, in der Synagoge in der Pestalozzistraße hat sie ihre Bat Mitzwa gefeiert. Woanders zu wohnen, könnte sie sich gar nicht vorstellen. Geboren wurde die Studentin mit den langen schwarzen Haaren und der modischen Brille, die gerade an ihrer Masterarbeit in Erwachsenenbildung an der Humboldt-Universität schreibt, in Odessa am Schwarzen Meer. Dorthin waren ihre Großeltern vor den Nationalsozialisten geflohen. Aus ihrer einstigen Heimat in Berlin-Charlottenburg. „Mit sechs Jahren bin ich nach Berlin gekommen. Mein Vater hatte hier Verwandte. Berlin ist wieder meine Heimat geworden“, sagt Zelener.
Sie ist eine von zwölf jungen jüdischen Menschen, die derzeit mit ihren vielfältigen Migrationsbiographien in der Ausstellung „#Babel 21“ in der Stiftung Neue Synagoge-Centrum Judaicum porträtiert werden. Die Schau wurde von dem jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk (ELES) kuratiert und wird unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung und der „Leo Baeck Foundation“ gefördert. Die meisten Porträtierten sind Stipendiaten sowie Alumnae der jüdischen Studierendenförderung.
Mit zahlreichen Texten und Bildern gruppiert sich die Ausstellung um die fünf Gedankenräume Familie, Migration, Heimat, Religion und Vielfalt. In Interviews erzählen die jungen Menschen aus ihrem Leben. Davon, wie sie nach Deutschland gekommen sind, was sie hier machen, welche Wünsche und Ziele sie haben, wie sie zur jüdischen Gemeinde stehen oder auch ob sie regelmäßig in die Synagoge gehen oder gar nicht an Gott glauben. Die Protagonisten stehen mit ihren Lebenswegen exemplarisch für die Internationalität und kulturell-religiöse Vielfalt, die jüdisches Leben in Berlin und Deutschland heute ausmacht.
„Ich denke, dass die Ausstellung den Nerv der Zeit trifft. Gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingsthematik ist das Thema Migration groß geworden. Berlin, Deutschland und auch die jüdische Community werden immer pluralistischer“, sagt Zelener und beschreibt damit die Kernthese der Ausstellung: Die jüdische Community ist heute eine international geprägte Einwanderungsgesellschaft, die nicht mehr nur mit der Schoah in Verbindung gebracht werden kann.
„Was hier erzählt wird, ist eine positive jüdische Geschichte im heutigen Deutschland. Sie soll keinesfalls die Grundnegativität des 20. Jahrhunderts, die Schoah, unterschlagen und auch keine ominöse, klischeehafte deutsch-jüdische Normalität heraufbeschwören“, schreibt Kurator Dimitrij Belkin in einer kleinen Broschüre, die der auf jüdische Geschichte spezialisierte Hentrich & Hentrich-Verlag begleitend zur Ausstellung herausgegeben hat. „Die in der Ausstellung vorgestellten Geschichten sind schön und dynamisch, sie sind aber auch dramatisch, widersprüchlich, bisweilen traumatisch“, schreibt Belkin. Die Lebensgeschichten der zwölf Protagonisten seien in jedem Fall offene Geschichten, da es ja schließlich um junge Menschen ginge, die ihr ganzes Leben noch vor sich hätten.
Die Ausstellung „#Babel 21“ ist in politischer und methodologischer Hinsicht etwas ganz Neues. Unter Einbeziehung aktueller Migrationsströme und Fluchtbewegungen, kommen junge jüdische Menschen zu Wort, die dauerhaft in Deutschland leben und über ihre Herkünfte, Identitäten und über ihr jüdisches Selbstverständnis reflektieren. „#Babel 21 wirft Grundthemen jüdischer und universeller Existenz auf: Familie, Heimat, Tradierung, Zugehörigkeit, Religion, Migration. Gleichzeitig Themen, die das Deutschland und Europa von heute gewaltig umtreiben. Die Ausstellung zeigt Unterschiede, wie Menschen mit all diesen Fragen umgehen“, so beschreibt es Anja Siegemund, Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin- Centrum Judaicum, in ihrem Grußwort im Booklet.
Von Brasilien nach Berlin
Yan Wissmann fühlt sich in Deutschland heute sehr wohl. „Ich bin von Brasilien nach Berlin ausgewandert. Ich gehöre der ersten Generation meiner Familie an, die wieder in Deutschland lebt und Deutsch spricht“, sagt Wissmann. Der 25-Jährige ist im brasilianischen Belo Horizonte als Enkel von deutsch-jüdischen Emigranten geboren und aufgewachsen. Sein Uropa, Julius Wissmann und seine Uroma, Klärle Wissmann, geborene Kulb, sind Überlebende der Schoah. „Als Jugendlicher wusste ich bereits, dass meine Urgroßeltern in den 30er Jahren vor den Nationalsozialisten aus Deutschland nach Brasilien geflüchtet waren und dass auch meine Großeltern, obwohl sie sich in der jüdischen Gemeinde in Sao Paulo kennengelernt haben, beide in Deutschland geboren wurden“, erzählt Wissmann. Sein Opa Kurt habe bis heute gute Erinnerungen an seine Kindheit in seiner Heimatstadt Stuttgart. „Mein Opa war acht Jahre alt, als er mit seinen Eltern das Land verlassen musste. Heute ist er bereit, über das Vergangene zu sprechen. Wenn wir telefonieren, und das tun wir recht regelmäßig, unterhalten wir uns nicht auf Portugiesisch, sondern auf Deutsch.“ Nachdem er 2013 ein Austauschjahr an der Universität Potsdam gemacht hatte, entschied sich Wissmann dafür, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Aktuell studiert er im Master Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Ökonomie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. „Mein Opa fühlt sich innerlich bis heute deutsch, und irgendwie habe ich das geerbt“, meint Wissmann.
Er freut sich, dass seine Schwester zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn inzwischen auch in Berlin lebt. Zusammen mit seinem Neffen geht Wissmann so oft es geht in die Synagoge in der Rykestraße in Prenzlauer Berg. „Es ist mir wichtig, dass auch mein Neffe seine jüdische Herkunft kennenlernt und pflegt. Das Judentum war in meinem Leben stets präsent. Deshalb versuche ich, ihm schon früh unsere Familiengeschichte zu erzählen“, sagt Wissmann.
Auch für Akiva Weingarten hat das Judentum immer eine große Rolle in seinem Leben gespielt. Der 22-jährige stammt aus einer streng ultraorthodoxen chassidischen Familie in New York. Er hat zehn Geschwister und siebzehn Cousins und Cousinen. In der Ausstellung erzählt Weingarten, wie er nach Berlin kam. Er wollte aus der starren und reglementierten Welt seiner Familie ausbrechen, das war ihm klar. Dass er aber ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt landen würde, war letztlich reiner Zufall und den günstigen Flugpreisen geschuldet. „Ich wollte lernen, hatte aber kein Geld“, sagt Weingarten. „Ich guckte, wo auf der Welt man kostenlos studieren kann. Da ich Jiddisch kann, fiel meine Wahl auf Berlin.“
Als er 2014 in Berlin ankam, kannte Weingarten hier niemanden. In seinem Portemonnaie hatte er seine ganzen Ersparnisse: Rund 1.000 Dollar. „Nun studiere ich und bin froh, dass meine Eltern noch mit mir sprechen, obwohl ich eine nicht-jüdische Freundin habe“, sagt er. Weingarten studiert am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Sei Ziel ist es, liberaler Rabbiner zu werden.
„#Babel 21. Migration und jüdische Gemeinschaft“, noch bis zum 26.10., Stiftung Neue Synagoge-Centrum Judaicum, Oranienburger Straße 28-30, Berlin-Mitte.
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