November 9, 2018 – 1 Kislev 5779
Der letzte Jolly Boy

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Regisseur Hans-Erich Viet setzt dem Auschwitz-Überlebenden Leon Schwarzbaum ein filmisches Denkmal  



Von Simon Akstinat



Ein Mann, der in seinem Alter noch so fix zur Tür eilt, ist eine echte Rarität: Ich bin zu Besuch beim 97-jährigen Leon Schwarzbaum, der heute außer mir auch noch seinen Regisseur Hans-Erich Viet zu Hause empfängt.

Die JÜDISCHE RUNDSCHAU berichtete bereits in der Vergangenheit über Herrn Schwarzbaums bewegte Biografie („Ich will es nicht erzählen – ich muss!“, JR Mai/Juni 2015), in der vor allem seine KZ-Haft in Auschwitz und die Ermordung der Bevölkerung seiner Heimatstadt in der Nähe des polnischen Kattowitz ein tiefer Einschnitt waren.

Doch ein Zeitungsartikel reicht nicht aus, um Leon Schwarzbaums Biografie zusammenzufassen. Umso wichtiger ist daher Hans-Erich Viets neuer Film, der bei seiner Premiere in Emden die Zuschauer im vollen Saal zu stehendem Applaus hinriss und dort mit dem DGB-Filmpreis ausgezeichnet wurde.

Etwa dreieinhalb Jahre lang begleitete der ostfriesische Regisseur Hans-Erich Viet Herrn Schwarzbaum, den er über gemeinsame Freunde kennenlernte, um an dessen noch immer sehr aktiven Leben (bis zum heutigen Tage ist Herr Schwarzbaum als Aufklärer tätig, erzählt als Zeitzeuge vor allem Schülern von seinen Erlebnissen während der NS-Diktatur) teilzuhaben. Die beiden kommen im Verlaufe des Filmes so viel herum, treffen so viele Leute, besuchen so viele Orte, dass ein wahrhafter Roadmovie entstanden ist.

Der Film, dessen Berliner Erstaufführung im Filmtheater am Friedrichshain von der prominenten Talkmasterin Anne Will moderiert wurde, beleuchtet ein Leben, das bis 1939 weitestgehend normal verlief. Zu dieser Normalität gehörte sein Acapella-Chor, den er in Eigeninitiative mit drei Freunden in der Tradition des American Swing gegründet hatte und nach dem der Film übrigens benannt ist: Dieser Swing-Acapella-Chor, das waren die „Jolly Boys“!

Selbst nach dem deutsch-sowjetischen Einmarsch in Polen lebte Leon Schwarzbaum zwar noch bis 1941 in formaler „Freiheit“ – d.h. er war noch nicht in KZ-Gefangenschaft. Doch die Drangsalierungen und die Morde an den Juden in der unmittelbaren Nachbarschaft ließen bereits erahnen, dass bald gar noch Schlimmeres bevorstand (am 8. September 1939 wurden jüdische Bewohner der Stadt Bendzin durch eine SS/SD-Einsatzgruppe in die Synagoge getrieben, die dann mit ihnen in Brand gesteckt wurde). Leon Schwarzbaum ahnte damals auch schon den deutschen Angriff auf die noch verbündete Sowjetunion voraus, weil er in unmittelbarer Nähe des örtlichen Bahnhofes wohnte und beobachten konnte, wie immer mehr deutsches Kriegsmaterial Richtung Osten bewegt wurde. 

Nach 1941 begann eine Odyssee des Schreckens. Zahlreiche KZs, deren Namen uns nur noch aus den Geschichtsbüchern bekannt sind, hat Herr Schwarzbaum erleiden müssen: Allen voran Auschwitz, aber auch Buchenwald und Sachsenhausen sind Stationen seiner Gefangenschaft. Besonders grausam war der Todesmarsch, bei dem die KZ-Wachmannschaften die Häftlinge von Auschwitz zu Fuß in Richtung Westen „verlegten“, weil von Osten die Sowjets anrückten – wer bei diesem Marsch vor Erschöpfung nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen. Leon Schwarzbaum war seit jeher ein sportlicher Typ und seine körperliche Kraft half ihm zu überleben.

Befreit wurde er schließlich im mecklenburgischen Schwerin. Eine Rückkehr in seine polnische Heimatstadt Bendzin ließ ihn bald erkennen, dass es in Polen keine jüdische Zukunft mehr gab – alle seine früheren jüdischen Nachbarn waren tot, und jüdische Rückkehrer waren wenig willkommen. 

Der bekannte spätere Filmproduzent Artur Brauner war damals Fluchthelfer und hatte gute Beziehungen zu den Sowjets. Daher konnte er Leon Schwarzbaum die Flucht aus Polen nach West-Berlin ermöglichen (durch einen Zufall wohnen der 97-jährige Leon Schwarzbaum und der 100-jährige Artur Brauner beide heute nur wenige hundert Meter voneinander entfernt).

Einige vergleichsweise unbeschwerte Jahre folgten, während der der noch immer junge Mann mit einer kleinen Gruppe anderer Holocaust-Überlebender das Leben in der Großstadt genoss. Er ging aus, baute sich ein soziales Umfeld auf, heiratete eine nicht-jüdische Frau und baute sich eine unternehmerische Existenz als Kunsthändler auf. In all diesen Jahren fügte er sich zwar normal ins West-Berliner Leben ein. Ein Grundmisstrauen behielt er jedoch gegenüber älteren Menschen – zu viele Angehörige dieser Generation waren Täter und hatten sich während des Zweiten Weltkrieges Schuld auf sich geladen.

Das erfüllte Leben und die vielen schönen Momente, die Herr Schwarzbaum nach seiner Befreiung genießen durfte, ließen ihn aber nicht träge werden: Immer noch ist er ein Mahner gegen Diktatur und Faschismus, und war auch beim Auschwitz-SS-Prozess gegen Reinhold Hanning als einer der Hauptzeugen bzw. Nebenkläger vertreten.

Um seine wertvolle Aufklärungsarbeit zu unterstützen, kommt der Film von Hans-Erich Viet nun also genau richtig. 


Der Film ist ab sofort im Kino – der deutsche Kinostart ist am 8. November in Hannover.
Gleichzeitig wird er in den Schulkinowochen gezeigt und geht mit dem DGB auf Tour.


Kontakt zum Regisseur und dem Verleih:

 info@realfictionfilme.de

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