Oktober 7, 2016 – 5 Tishri 5777
Der kuriose Erfolg von „Eis am Stiel“

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Die Geschichte einer gelungenen deutsch-israelischen Kooperation  

von Astrid Winterfeld

Haben Sie je von dem Spielfilm „Eis am Stiel“ gehört? Bestimmt! Die besonders in Deutschland erfolgreiche Teenager-Komödie mit dem Originaltitel „Eskimo Limon“ – benannt nach einer beliebten Eissorte in Israel – und ihre sieben Fortsetzungen scheinen fest im kollektiven Bewusstsein verankert. Fast jedem ist sein Titel geläufig, auch wenn er ihn mit unterschiedlichen Erinnerungen verbindet. Die einen erinnern sich an einen Film ihrer Jugend, der erste sexuelle Erfahrungen sowie das Lebensgefühl und die Musik der späten 50er Jahre abbildet. Andere denken an Wiederholungen der frivolen Folgen im Nachtprogramm von RTL 2, die sie einfach wegzappten oder schmunzelnd anschauten. Nur selten jedoch scheint präsent zu sein, dass es sich um eine israelische Produktion aus dem Jahre 1978 handelt, die im selben Jahr auch im Wettbewerbsprogramm der Berlinale lief und aufgrund des großen Erfolges mit der dritten Folge 1981 fortan als deutsch-israelische Kooperation produziert wurde.

Wir erinnern uns: Drei pubertierende Schulfreunde – der Draufgänger Momo, der schüchterne Benny und der dicke Johnny, der nie ein Mädchen abbekommt – begeben sich im Tel Aviv der späten 50er Jahre auf die Jagd nach ersten sexuellen Erlebnissen. So unterschiedlich die drei auch sind, eines haben sie gemeinsam: ihre Leidenschaft für hübsche Mädchen, Sex und Schabernack. Dabei kommen sie sich in die Quere, verkrachen und versöhnen sich wieder. Mal klauen sie ein Auto, um ihren Freundinnen zu imponieren, verdienen sich Geld durch Gelegenheitsarbeiten und messen nach, wer den längsten Penis hat. Es geht um die erste Liebe und den ersten Liebeskummer, den ersten Geschlechtsverkehr, den ersten Besuch bei einer Prostituierten, die ersten Filzläuse und was man dagegen tun kann, die erste Schwangerschaft und die erste Abtreibung. Trotz des seichten Charakters des Films hat der damals 35-jährige Regisseur Boaz Davidson Sorgfalt auf die Zeichnung der Figuren verwendet und dadurch eine Möglichkeit der Identifikation geschaffen. Für jeden ist etwas dabei.

Vor allem aber scheint es darum zu gehen, die gute, alte Zeit der Endfünfziger und das Lebensgefühl jener Jugend in den späten siebziger Jahren neu zu vermarkten. Deshalb ist die Musik das bestimmende Element des Films. Dem Nummerncharakter der Musiktitel der amerikanischen Hitparade von 1958 entsprechend erzählen locker aneinander gereihte Episoden aus dem Leben der Teenager: Situationen in der Schule, zu Hause oder in Gelegenheitsjobs. Der Schwerpunkt jedoch liegt auf den Versuchen der Annäherung an das andere Geschlecht. Dabei werden von den Erwachsenen abgeschaute Verhaltensmuster überzeugend vorgeführt: sich präsentieren, das Imponiergehabe und das sich beständig wiederholende Kämmen.

Will man dem Film glauben, haben die israelischen Teenager der fünfziger Jahre ihre amerikanischen Altersgenossen in Auftreten und Verhalten perfekt kopiert. Nur wenige Schriftzeichen weisen darauf hin, dass der Film in Israel spielt. Erst in Folge vier und fünf, in denen die Freunde zum Militär eingezogen werden, wird ein Bezug hergestellt. Vielmehr wechseln sich komische und auch traurige Erfahrungen des Alltags der drei ab, die vor dem Hintergrund der amerikanischen Hitparade von 1958 ablaufen. Der Regisseur Boaz Davidson, der Ende der sechziger Jahre an der Londoner Filmschule studierte und bis heute als Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent arbeitet, belässt das politisch-soziale Umfeld jener Zeit im Diffusen, so dass es wahrscheinlich ist, dass weniger die eigene Vergangenheit Davidsons als ein amerikanischer Film Modell gestanden hat: der 1973 entstandene „American Graffiti“. In ihm erzählt George Lukas von seiner Jugend in einer amerikanischen Kleinstadt im Sommer 1962 und sucht Antworten auf die Frage, was er und seine Freunde nach beendeter Schule aus ihrem Leben machen wollen.

Auf diesen Film nimmt Davidson in einem Interview anlässlich der Berlinale-Aufführung Bezug. Er erzählt der „Berliner Morgenpost“ (2. März 1978), dass er schon lange die Idee mit sich herumgetragen habe seine Teenager-Zeit zu verfilmen, jedoch irgendwie habe es vorher mit der Umsetzung nie geklappt. Vielleicht aber habe der große Erfolg von „American Graffiti“ mitgeholfen, dieses Projekt dann doch zu realisieren.

Damit spricht Davidson genau jenen Punkt an, der innerhalb der Filmkritik jener Zeit heftig thematisiert wird: Der Film sei ein fader Aufguss von „American Graffiti“, habe bei François Truffauts „Taschengeld“ (1976) und Louis Malles Pubertäts-Ballade „Herzflimmern“ (1971) geklaut und erreiche trotzdem die Originale nicht annähernd. Alles wirke platt, grobschlächtig, oberflächlich und ohne Differenzierung und Zwischentöne. Der Versuch, das delikate Thema „pubertäre Sexualität“ mit den grobschlächtigen Mitteln des Action-Films in den Griff zu bekommen sei – zumindest künstlerisch – auf voller Breite gescheitert. (Filmdienst 20750)

Die fast einstimmige negative Einschätzung der Filmkritik schadete dem kommerziellen Erfolg des Films jedoch in keinster Weise. Sowohl auf der Berlinale als auch bei der Kinoauswertung war das Publikum begeistert. Nach der Uraufführung am 1. März 1978 im Berliner „Zoo-Palast“ beschrieb das „Spandauer Volksblatt“ die Stimmung: „Gäbe es noch eine Publikumsabstimmung wie in den Gründerjahren der Berlinale, dann gehörte Israels Wettbewerbsbeitrag gewiss zu den hohen Favoriten. Riesenbeifall zum Schluss für den Regisseur und seine Hauptdarsteller.“

Mit der Wahl seiner Hauptdarsteller Yiftach Katzur (Benny), Jonathan Sagall (Momo), Zachi Noy (Johnny) und der jungen Schauspielerin Anat Atzmon (Nili) in ihrer ersten Filmrolle setzte der bereits damals erfolgreiche Produzent Menahem Golan auf neue Gesichter. Der Erfolg auf der Berlinale und eine Golden-Globe-Nominierung in der Kategorie Bester Ausländischer Film 1979 gaben ihm Recht und kurbelten die Karrieren der Hauptdarsteller an. Sie wurden in den weiteren Folgen besetzt und für jeden waren die Filme ein Sprungbrett in eine erfolgreiche, wenn auch unterschiedliche künstlerische Karriere.

Dass es 1981 ab Folge drei zu einer deutsch-israelischen Kooperation kam, ist der langjährigen Zusammenarbeit des Produzenten Menahem Golan mit dem deutsch-jüdischen Filmproduzenten Artur Brauner zu verdanken. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland und Israel im Mai 1965 offizielle diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten, wurde im Mai 1971 ein Filmabkommen unterzeichnet. Ihm waren jedoch zahlreiche persönliche Initiativen vorausgegangen, die auf der Zusammenarbeit jenseits staatlicher Kulturförderung beruhten. Golan, dessen Leidenschaft dem Unterhaltungskino und besonders dem Actionfilm galt, wobei er gerne politische Stoffe nutzte, fand mit Brauner einen gleichgesinnten Filmenthusiasten. So entstanden viele gemeinsame Produktionen. „Eis am Stiel“ war eine von ihnen. Sie trug dazu bei, die heute so vielfältigen deutsch-israelischen Filmbeziehungen auszubauen und zu festigen.

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