Dezember 4, 2015 – 22 Kislev 5776
Denker des Zweifels

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Zum Tod von André Glucksmann  

Von Marko Martin

Welch schreckliche Koinzidenz! Ausgerechnet am Tag der Beerdigung von André Glucksmann wurde seine Heimatstadt Paris zum Tatort terroristischen Massenmords. Grauenhafte Bestätigung seiner Thesen, die so manch jüngerer Zeitgenosse bereits unter der Rubrik „Hysterie“ hatte abheften wollen: Das Undenkbare denken. Nichts Unmenschliches sei Dir fremd, um zum Schutz des Menschlichen gewappnet zu sein.

Glucksmanns Philosophie war eine von Sokrates und Karl Popper geprägte Negativ-Sicht, eine konkrete Menschenfreundlichkeit: Da wir uns weder über die letzten Dinge einig werden können noch über die Details eines allgemeinen guten Lebens, müssen wir uns zusammenschließen in der konkreten Abwehr von physischem Leid, Unterdrückung, Terror und Folter. „Die Gemeinschaft der Überzeugten muss der Solidarität der Erschütterten weichen, will man Ethik begründen. Was wir brauchen, ist eine Moral der Ersten Hilfe. Den Scharlatanen aber überlassen wir es, Rezepte für sicheres Glück auszustellen.“

André Glucksmann wurde 1937 als Kind nach Frankreich geflüchteter mitteleuropäischer Juden geboren. Sein Vater starb zu Beginn des Krieges, die Mutter rettete den Sohn und die Tochter aus einem französischen Internierungslager, dessen Insassen bereits für den Weitertransport nach Drancy und Auschwitz vorgesehen waren. „Als auf den Bahnsteigen die Selektionen durchgeführt wurden“, schrieb er in seiner 2006 veröffentlichten Autobibiographie „Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens“, „teilte man uns den Nicht-Juden zu, während die Mehrzahl zu ihrem verhängnisvollen Bestimmungsort aufbrach. Ich gehöre also zu denen, die ihr Leben der Impertinenz einer rebellischen Mutter verdanken, dem, was man im Jiddischen Chuzpe oder im Griechischen Parrhesia nennt.“

Zu Beginn seiner intellektuellen Laufbahn war Glucksmann 68er-Maoist, dann Assistent des großen Liberalen Raymon Aron und schließlich, unter dem Eindruck der Lektüre Alexander Solschenizyns, ab 1974 einer der Köpfe der antitotalitären „noveaux philosophes“. Weit entfernt davon, KZ und Gulag gegeneinander auszuspielen und zu relativieren, bezogen sich diese jungen, fast ausnahmslos jüdischen Intellektuellen auf Hannah Arendt und brachen damit das Schweigekartell der französischen Gesellschaft, deren Linke den Stalinismus verharmloste, während die Rechte weiterhin die Kollaboration von Vichy verdrängte. Da waren also André Glucksmann, Bernard-Henri Lévy, Alain Finkielkraut und Pascal Bruckner.

In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren hatte sich Glucksmann dann bei der westdeutschen Friedensbewegung unbeliebt gemacht, da er – aus eben jener Philosophie der ethisch notwendigen Abschreckung heraus – den NATO-Nachrüstungsbeschluss verteidigte. Ironie der Geschichte: André Glucksmann starb am 10. November 2015, nur wenige Stunden vor Helmut Schmidt, der sich seinerzeit aus den gleichen Gründen mit den Gefühlspazifisten der eigenen Partei überworfen hatte. Freilich hörten damit die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Denn André war ein Empathiker, ein Menschenfreund und Menschenrechts-Universalist – von Argentinien über Bosnien, Ruanda, Algerien, Tschetschenien bis hin zu Russland, dessen Dissidenten er immer wieder beistand. (…)

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