Ein ehemaliges Elendsviertel und sein Antlitz im 21. Jahrhundert  

Von Ulrike Stockmann

Es ist etwas ungeheuer Faszinierendes, die historische Entwicklung einer Stadt nachzuvollziehen. Man glaubt, einen Ort zu kennen, weil man ihn schon immer kannte. Man sitzt in der Gegenwart,
vertraut mit der zeitgenössischen Gestalt seiner Umgebung und erhält den Eindruck, es muss hier mehr oder weniger schon immer so gewesen sein, wie es jetzt gerade ist. Man weiß zwar zugleich,
dass jeder Fleck auf der Welt eine Vergangenheit und auch eine Zukunft hat, doch so wenig erfasst man das eine, wie man das andere vorauszusehen vermag. Es ist möglich, zu behaupten, die Geschichte Berlins zu kennen. Vielleicht, weil man sich näher mit historischen Fakten auseinander gesetzt hat. Vielleicht, weil hier und da eine verfallene Ruine, ein Denkmal oder eine schlichte
Gedenktafel an eine längst vergangene Epoche, ein längst verstrichenes Ereignis aus der Vergangenheit erinnert. Doch kann man wirklich wissen, wirklich fühlen und begreifen, wie die
Verhältnisse einer anderen Zeit sich darstellten? Kann man sehen, hören und riechen bzw. sich wenigstens vorstellen, mit seinen Sinnen zu erfassen, wie sich vergangenes Leben einmal abspielte?
Natürlich nicht direkt. Aber durch konzentriertes Hineindenken in eine Epoche, kann man es immerhin probieren. Man kann versuchen, eine flüchtige Ahnung eines Zeitabschnitts zu ergattern, den man niemals kennen wird. Überaus flüchtig ist auch der Eindruck, den man heute noch von der ursprünglichen Gestalt des Berliner Scheunenviertels gewinnen kann. Selbst mir als waschechter Berlinerin war lange Zeit die Existenz dieser einstmals berühmt-berüchtigten Straßenzüge nicht bekannt.
Zuerst las ich wohl bei Heinrich Zille von diesem skandalträchtigen, manchmal sogar romantisch-verklärten Viertel Berlins. Oder besser gesagt – ich sah schwarz-auf-weiß von ihm gezeichnet,
wie sich das Leben des „Fünften Standes“ im wilhelminischen Berlin so abspielte.
Sah seine berühmten Skizzen vom Not und Elend der Ärmsten der Armen, eingefangen mit gelassenem Scharfsinn; wiedergegeben mit Witz und Geschmack im Angesicht größter
Trostlosigkeit. Zille war im Scheunenviertel so bekannt, dass man ihn mit Handschlag begrüßte, wenn er mal wieder auf „Motivjagd“ ging. Was in Zilles einfühlsam-derben Zeichnungen kaum eine Rolle
spielt, ist das rege jüdische Treiben vor seiner Lieblingskulisse. Das Scheunenviertel selber, sowie die restliche Spandauer Vorstadt (die übrigens nicht nahe an Spandau liegt!) bildeten seit dem frühen
18. Jahrhundert bis zur Naziherrschaft das jüdische Viertel Berlins. (…)

Soziale Netzwerke