Von Heike Linde-Lembke
Der Blick geht in die Weite. In die Leere. Er ist nicht mehr verzweifelt, sondern darüber hinaus. Er ist resigniert und voll Ahnung eines unvorstellbaren Unheils. Der Mund und die Haltung der Hand auf der Wange verstärken diese Ahnung ebenso wie die Gebärde der anderen Hand vor dem freien Oberkörper, als wolle sie eine Katastrophe abwehren. Anita Rée, die dieses Selbstporträt 1930 malte, hat die Katastrophe, die Schoah, nicht erlebt. Sie ging vorher. Die Hamburger Künstlerin und Jüdin nahm sich am 12. Dezember 1933 in Kampen auf Sylt mit Veronal das Leben.
Die Hamburger Kunsthalle würdigt jetzt Werk und Leben der Künstlerin mit einer umfangreichen Retrospektive, die nach einer Ausstellung 1986 mit 70 Werken überfällig war, um eine der größten Künstlerinnen der Hansestadt zu ehren. „Durch die hohe Anzahl der Werke können wir die Bandbreite der Künstlerin eindrucksvoll zeigen“, sagte Kunsthallen-Direktor Christoph Martin Vogtherr. Der Ausstellung gingen umfangreiche Forschungen voraus, um eine neue Orientierung über das Werk Anita Rées und ihrer Arbeitsweise zu vermitteln.
Die Exponate, das früheste datiert von 1913, werden in elf Sälen der renovierten Kunsthalle chronolgisch präsentiert. Die Säle sind nach Themen geordnet wie „Ferne Paradiese“ mit ihren Fantasieschränken, „Sehnsuchtsorte“, „Herrenporträts und Frauenbilder“, „Vertraute Fremde“, „Selbst“ oder auch „Sylt – letzte Werke“ mit feinen Landschafts-Gemälden.
Anita Rée wurde am 9. Februar 1885 in Hamburg in eine jüdische, assimilierte Familie geboren. Ihre Mutter Anna Clara kam aus Venezuela, ihr Vater Eduard Rée aus Hamburg. Sie wird evangelisch getauft und erzogen und wächst auf zwischen den Kulturen der südamerikanischen und katholisch dominierten Heimat ihrer Mutter, dem liberalen Judentum in Hamburg und ihrer evangelischen Erziehung. Die Frage, wohin sie gehört, begleitet die Künstlerin ständig und prägt ihr künstlerisches Werk. Sie ist auch verantwortlich für die ständige, innere Zerrissenheit der Frau und führte letztlich zur tiefen Melancholie.
Anita Rée war der Hamburger Kunsthalle seit jeher verbunden, denn der damalige Direktor Gustav Pauli hat sie gefördert und mehrere Werke von ihr angekauft, Wilhelm Werner, Hausmeister der Kunsthalle, hat 1937 die damals von der Hamburger NS-Regierung als „entartet“ deklarierte Kunst der Jüdin Anita Rée im Keller der Kunsthalle versteckt und damit gerettet. Anita Rée wurde trotz Taufe und evangelischer Erziehung gleich nach der Machtergreifung von den Nazis verfemt.
„Die Hamburger Kunsthalle hat mit Abstand die größte öffentliche Sammlung von Werken Anita Rées in ihrem Bestand, und wir können mit vielen Leihgaben aus Museen und Privatbesitz aus aller Welt anhand von mehr als 200 Exponaten zeigen, wie hervorragend diese Künstlerin war“, sagt Kunsthallen-Kuratorin Karin Schick.
Die Künstlerin ist nicht nur Opfer
Die 48-jährige Expertin für die klassische Moderne sagt: „Uns ist es aber wichtig, sie nicht als Opfer zu zeigen, sondern als aktive und selbstbewusste Künstlerin.“ Obendrein spricht sie Anita Rée ab, Jüdin gewesen zu sein. Damit steht Karin Schick im Gegensatz zu Maike Bruhns, Hamburger Kunsthistorikerin, Autorin, Kuratorin und Kunstsammlerin, die über vergessene Hamburger Künstler aus der Zeit des Nationalsozialismus forscht und publiziert und in einem Aufsatz über Anita Rée und Carl Einstein, den Anita Rée 1921 eindrucksvoll porträtierte, schrieb: „...Wie Einstein bestimmte sie es (den Suizid) selbst, aber sehr viel früher: am 12. Dezember 1933 nahm sie sich auf Sylt das Leben, ausgebrannt, vereinsamt und am Ende ihrer Kräfte. Auch sie war Jüdin.“ Das Gemälde ist in der Retrospektive zu sehen. Maike Bruhns erstellt auch das neue Rée-Werkverzeichnis und wird es im Februar präsentieren.
Der Ausstellung gingen intensive Untersuchung über Anita Rées Maltechniken voraus, und die Wissenschaftler entdeckten unter anderem, dass sie mit Bronze- und Goldplättchen Effekte erzielte, beispielsweise bei ihrer 1924/1925 entstandenen Bildern mit kalabresischen Frauen. Sie ließ auch ihrem Hang zum Dekorativen freien Lauf wie bei den minimalen Collagen, die sie kaum sichtbar in die Schalen auf den Kopf von Bildern mit italienischen Frauen setzte, oder bei ihren Fantasieschränken mit Affen und ihren sehr lebendig wirkenden Puppentheater-Figuren.
Allen ihren Werken liegt ihre Meisterschaft als Zeichnerin zugrunde. Das ist vor allem an den Porträts ablesbar. Die Kinder-Bildnisse zeigen in klaren Linien ungeschönt die Realität der Kinder, ihren Seelen-Zustand, ihren Ernst, oft ihre Tristesse. Die große Melancholie, die Anita Rée stets begleitete, liegt über fast allen ihren Werken, besonders über ihren zahlreichen Selbstporträts. Auch das Gemälde „Halbakt vor Feigenkaktus“ scheint eines zu sein und ist in der Ausstellung zu sehen. Die Farben sind hell und warm, der Ausdruck hingebungsvoll und sinnlich, denn neben aller Melancholie war Anita Rée eine sinnenfrohe Frau und in den Hamburger Salons wohlangesehen, schon durch ihre familiär großbürgerliche Stellung. (…)
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