Von Boris Karshina
Im Anschluss an Jom Kippur, den Tag, an dem wir eine kurze, aber sehr erschütternde Geschichte über den Propheten Jona lesen, beginnt das Laubhüttenfest – und das ist kein Zufall. Jona wird vom Ewigen in die Stadt Ninive geschickt, um die Anwohner zur Reue zu inspirieren, wodurch sich deren Leben zum Besseren, Heiligeren und Gewissenhafteren ändern soll. Das gelingt dem g-ttesgesandten Mann, und die Stadt kann man bald nicht mehr wiedererkennen – von heute auf morgen schafft der Wille ein reines und nach G-ttesvorgaben gerichtetes Dasein zu führen, und aus geistig abgestumpften Verbrechern Gerechte Tzadikim zu machen.
Der Prophet sieht seine Aufgabe aber noch nicht als beendet: Statt sofort nach Hause zu kehren, baut er sich eine Hütte außerhalb der Stadt Ninive. Er will zunächst beobachten: wie machen das diese Menschen, wie behalten sie ihren guten Eifer? Denn Gewohnheiten abzulegen und stattdessen die Wege zum moralischen Leben zu erlernen, kann eine noch schwierigere Aufgabe als das bloße Anerkennen eigener Fehler zu sein.
Die Feiertage von Sukkot sind für uns eine Zeit, uns selbst zu betrachten – beginnen wir das Jahr im Sinne unserer Entschlüsse, sich während Jom Kippur zu bessern? Die Sukka ist unser Beobachtungsobservatorium und die Arten im Feststrauß (Lulav) sind unsere Lehrer.
Mishna lehrt uns „Wer ist weise? Der, der von allen lernen kann.“ So ist das eine durch und durch jüdische Art, die Eigenschaften von der äußeren Welt abzuschauen. Beispielsweise von den Tieren, die zur Sukka-Ausschmückung aufgehängt werden. Vom Leoparden – die Fähigkeit, die Zieldistanz genau auszurechnen, denn nur dann wird er seine Beute jagen, wenn seine Kräfte der eigenen Einschätzung entsprechen.
So müssen auch wir wissen, wie viel Kraft wir objektiv für die entsprechende Mitzva haben, damit wir nicht entkräftet auf der halben Strecke stehen bleiben müssen.
Vom Adler die Leichtigkeit, denn dieser Vogel sieht sehr gewichtig aus – doch in Wahrheit sind seine Federn sehr leicht, sodass sein ehrwürdiges Aussehen ihn nicht daran hindert, sofort ohne zu zögern loszulegen und zu handeln. So müssen auch wir trotz Reichtum und gesellschaftlicher Errungenschaften bereit sein, wie ein leichter Windhauch loszufliegen um unseren Verpflichtungen gegenüber Haschem gerecht zu werden.
Diese Lehre entnehmen wir auch den Arba Minim: dem geschlossenen Palmenzweig, dem Etrog/Zitrusfrucht, Myhrt und der Trauerweide. In unserer Tradition haben wir vier besonders schwerwiegende Sünden, von denen man sich unbedingt fernhalten sollte: Mord, Ausschweifung, Götzendienst und die üble Nachrede, die so schlimm ist wie die anderen drei zusammen.
Der Etrog als Symbol für das Herz
Welche Taktiken können wir erlernen, um sittliche Reinheit zu erlangen? Der Etrog repräsentiert das menschliche Herz. Das ist der Ort, wo ungesättigte Habwünsche geboren werden. Die schlimmstenfalls zum Mord führen können. So auch der erste Mord der Menschengeschichte: Kain wollte den Erfolg seines Bruders Hevels sich reißen. Und die Zitrusfrucht, die das ganze Jahr durch blüht und gedeiht, zeigt uns: wenn du dich mit deinen eigenen Sachen zu beschäftigen weißt, dann fällt dir nicht auf, was der andere hat; wenn der innere Leerstand nicht existiert, dann muss man ihn auch nicht mit fremdem Eigentum fühlen.
Der Lulav, die so ziemlich einzige Pflanze, die sich nicht nach der Sonne dreht – dem Urobjekt aller Götzenkulte. Wenn man eine starke innere Werte-Achse hat, beugt man sich nicht vor scheinbar von G-tt unabhängigen Kräften in der Suche nach Gunst.
Die Hadas-Blätter, die wie ein Auge aussehen, warnen vor zu schnellen Entscheidungen, die zu Ausschweifungen führen können – nicht anschauen und gleich berauscht handeln! Der wahre Duft vom Ehepartner entwickelt sich nur durch das zarte und vorsichtige Einwirken – wie etwa in einer gut laufenden jüdischen Ehe.
Und schließlich die Trauerweide – ihre Blätter sehen aus wie ein Mund und rascheln im Wind, als würden sie flüstern. Obwohl am Wasser wachsend, werden die Zweige ziemlich schnell schwarz, wenn sie in Kontakt mit Wasser kommen. Von der fremden Quelle mit Lebensenergie gespeist, also Gesprächsinhalten, werden diese Lippen ganz schnell faul. Also gilt es: von der eigenen Quelle nicht entfernen. Wenn dies jedoch nötig ist – dann „trocken“ halten und was einen nichts angeht – meiden!
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