Wie die Untersuchungshaft einer jüdischen Frau den Abtransport ins KZ ersparte
  

Oktober 6, 2018 – 27 Tishri 5779
Was ich von meiner jüdischen Großmutter aus Chemnitz gelernt habe

Von Chaim Noll

Meine Chemnitzer Großmutter hat gefährlich gelebt. Ihre Mutter starb früh, ihr Vater wanderte 1936 nach Palästina aus, ins spätere Israel. Da war sie bereits verheiratet und blieb. Sie gehörte zum gutbürgerlichen Mittelstand, war gebildet, hatte als eine der ersten Frauen in Sachsen nach dem Ersten Weltkrieg studiert. So wurde sie in der Nazi-Zeit nicht zur Schwerarbeit in einem Rüstungsbetrieb, sondern im Büro einer Spedition „dienstverpflichtet“. Der Inhaber, ein Nazi-Bonze, trieb unter der Hand Schwarzhandel mit Kohle, was sie, als sie in die Unterlagen Einsicht nahm, beanstandete. Sie hat zeitlebens offen ausgesprochen, was sie dachte. Ihr kam nicht in den Sinn, dass sie als Jüdin dazu kein Recht mehr haben sollte.

Meine Großmutter wurde im Frühjahr 1943 verhaftet und mehrere Tage und Nächte von der Gestapo verhört. Auf Anraten eines deutschen Rechtsanwalts, der von ihrem früheren Bekanntenkreis übriggeblieben war, weigerte sie sich auch unter Druck, ein Schuldgeständnis zu unterschreiben über die Unterschlagung von „zwei Waggons Kohle“, deren sie bezichtigt wurde. Daher musste das Verfahren gegen sie 1944 eingestellt werden. Der Umstand, dass sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, rettete ihr das Leben, da sie als Angeklagte in einem schwebenden Ermittlungsverfahren nach deutschem Rechtsverständnis nicht deportiert werden durfte.

Als sie freikam, waren die anderen Juden der Stadt längst „abgeholt“. Ihre Fünf-Zimmer-Wohnung hatte die Gestapo beschlagnahmt, einige Zeit war sie obdachlos und lebte in Chemnitz und Dresden bei Freunden, die sich ihrer annahmen. Ende 1944 wurde sie wegen einer abfälligen Bemerkung über Hitler denunziert und erneut inhaftiert, diesmal kam sie sofort ins KZ Theresienstadt. Doch zu spät, um noch in eins der Vernichtungslager abtransportiert zu werden. Sie überlebte und kehrte nach Chemnitz zurück. Nach dem Krieg galt sie als „politisch Verfolgte“ und bezog in der DDR eine hohe Rente.

Auf selbstmörderische Weise politisch unkorrekt
Ich habe ich mich immer gefragt, warum sie so an Chemnitz hing. Obwohl diese Stadt für ihre angegriffenen Lungen – sie war in Theresienstadt an Tuberkulose erkrankt – sehr ungünstig liegt – in einem Talkessel. Es half nicht viel, dass sie im besten Viertel lebte, am Kassberg, etwas oberhalb der dicken Luft. Das Rauchen hat sie auch nie aufgegeben, es war ein Symbol ihrer Emanzipation: Damals wurde in gebildeten Kreisen geraucht. Und sie hat niemals – nicht mal 1944, als sie eben aus Gestapo-Haft entlassen war – auf ihr Recht verzichtet, laut und deutlich ihre Meinung zu sagen.

Ich denke oft an meine Chemnitzer Großmutter, die, wenn ich es genau überlege, mit dem Leben davongekommen ist, weil sie, als man sie zum Schweigen verurteilt hatte, trotzdem gesagt hat, was sie dachte. Ihr Verhalten war nach den Maßstäben ihrer Zeit äußerst unklug, man könnte sagen: auf selbstmörderische Weise politisch unkorrekt. Ich denke immer an sie, wenn ich mich wieder einmal durch zu große Offenheit verhasst gemacht habe. Lange hat mich die Frage beschäftigt, warum ich außerstande bin, mich politisch korrekt zu verhalten. Ich denke, es ist ein glückliches Erbteil meiner Großmutter. Sie hat überlebt, weil sie politisch unkorrekt war. Allerdings: So viel wie bei ihr stand bei mir nie auf dem Spiel.

Sie blieb in Chemnitz bis zu ihrem letzten Tag. Auf die Frage, warum sie, nach all ihren schrecklichen Erlebnissen, immer noch dort leben wollte, gab sie etwas allgemein zur Antwort: In dieser Stadt gäbe es „auch viele anständige Menschen“. Mein Vater versuchte in den 70er Jahren, sie nach Berlin zu holen, doch sie ging nach Chemnitz zurück. Inzwischen wurde ich fünfmal zu Lesungen nach Chemnitz eingeladen und habe versucht, dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Bei der ersten Veranstaltung vor zehn Jahren traf ich noch den alten Antiquar, der meiner Großmutter über Jahrzehnte französische Romane besorgt hat. Zu meiner bisher letzten Lesung im vergangenen Jahr kamen mehr als 200 Chemnitzer. Inzwischen habe ich Freunde dort. Dass es Nazis in Chemnitz gibt, habe ich als Kind von meiner Großmutter gehört. Auch, dass es nicht die ganze Wahrheit über diese Stadt ist.

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