Ein Gespräch des Historikers Michael Wolffsohn über sein Buch „Zivilcourage“ mit dem Publizisten Gerhard Haase-Hindenberg  

Dezember 13, 2016 – 13 Kislev 5777
Über den Mut in der Politik

In seinem Buch „Zivilcourage“ geht der jüdische Historiker Michael Wolffsohn mit dem Staat hart ins Gericht, der „seine Bürger im Stich“ lasse – so der Untertitel. Viel wurde in den letzten Wochen darüber geschrieben und Wolffsohn hat zahlreiche Interviews gegeben. Unser Autor Gerhard Haase-Hindenberg hat einige der im Buch verwendeten Begrifflichkeiten aus jüdischer Sicht hinterfragt. Herausgekommen ist ein Gespräch auf Augenhöhe.

Zivilcourage
Herr Prof. Wolffsohn, sind wir uns darin einig, dass die Deutung dieses Begriffes abhängig ist von den gesellschaftlichen Umständen, in denen er gebraucht wird? Immerhin verdankten in der Nazizeit allein in Berlin 1.700 Juden ihr Überleben der Zivilcourage nicht-jüdischer Nachbarn, Kollegen und Freunde.

Sie haben völlig Recht. Anders als die meisten Anderen, die heute diesen Begriff gebrauchen, ist für Sie Zivilcourage mit Widerstand gleichzusetzen. Nur so ist Zivilcourage gemeint und zu verstehen. Im heutigen Deutschland verwechseln die meisten Widerspruch mit Widerstand und nennen den Widerspruch Zivilcourage. Das ist ebenso widersinnig wie unsinnig. Zivilcourage, wörtlich übersetzt „Bürgermut“ hat eine politische und moralische Dimension. Beide gehören zusammen.

Staatsversagen
Sie beschreiben den Fall eines Attentäters in einem französischen Zug, der von sechs beherzt zugreifenden Fahrgästen vom Anschlag abgehalten werden konnte. In diesem Zusammenhang zitieren Sie Brecht, der Galilei sagen lässt „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“. Bert Brecht verwendet diesen Satz aber in einem gänzlich anderen Zusammenhang, nämlich als „heldenhaften“ Widerspruch gegen die Obrigkeit.

Wieder haben Sie Recht. Womit wir wieder bei der politischen Dimension von Zivilcourage sind. Also kein Widerspruch.

Die Frage steht, ob es jemals einen Staat geben kann, der seine Bürger so weit zu schützen in der Lage ist, dass er selbst einem allein agierenden Selbstmordattentäter rechtzeitig erkennen und eliminieren kann? Oder anders ausgedrückt, ob der geschilderte Fall tatsächlich ein geeignetes Beispiel für Staatsversagen ist?

Darum geht es nicht. Es geht darum, dass der Seinsgrund eines jeden Staates die Sicherheit seiner Bürger nach innen und außen ist. Für die Innen-Sicherheit ist die Polizei zuständig, für die Außen-Sicherheit die Bundeswehr. Die Defizite sind bekannt. Auch die Gründe. Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Medien Deutschlands, auch anderer Staaten Westeuropas verträumten und versäumten die Wirklichkeit. Sie wähnten sich nach innen und außen sicher. Nun wachen sie auf. Seit langem waren Polizei und Bundeswehr nicht so beliebt wie jetzt. Wenn der Staat aber Zivilcourage einfordert – und das geschieht – dann fordert er einerseits zum Widerstand gegen sich selbst auf. Das ist absurd. Darüber hinaus macht er seine Aufgabe – Sicherheit – zur Gemeinschaftsaufgabe. Damit entledigt er sich seiner Verantwortung. Ich bin nicht bereit, den Staat aus seiner Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürger zu entlassen. Nicht Bürgermut ist gegen Unsicherheit gefragt, sondern der Mut des Staates zu sich selbst – für uns Bürger.

Klischee
Sie haben zwei Beispiele gewählt. Einerseits der Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf, als Bundeskanzler Schröder den Ermittlungen vorausgreifend von einem rechtsradikalen Anschlag ausging. Ein Irrtum wie sich bald zeigte. Auch der deutsche Botschafter in Israel sprach bei dem körperlichen Angriff auf Rabbi Alter von der Kontinuität nationalsozialistisch-deutscher Geschichte, obgleich bekannt war, dass es sich um islamistische Täter handelte. Sie schreiben: „Wer Klischees für Diagnose hält, wird gesellschaftliche und politische Krankheiten nicht heilen, weil ein Klischee und als Klischee ist jedes Klischee falsch. Nie gibt es die Wirklichkeit wieder, es spiegelt eine falsche vor.“ Soweit, so gut. Dann aber heißt es bei Ihnen: „Und doch hat fast jedes Klischee, auch dieses, seinen Ursprung in der Wirklichkeit.“ Wie lässt sich dieser Satz an den obigen Beispielen erklären?

Hoffentlich erinnert sich jeder daran, dass – gar nicht so lange her – Juden in Deutschland ihres Lebens nicht sicher waren. Diplomatisch ausgedrückt. Wenn Juden heute in Deutschland angegriffen werden, liegt natürlich der Reflex nahe: Das waren Nazis. Die lieben uns Juden bekanntlich auch gegenwärtig und künftig nicht, aber wer „Nazi“ sagt, um Araber oder andere Muslime nicht als Täter zu benennen, ist unwillig und unfähig, Täter zu erkennen, zu bestrafen und ihre Taten zu verhindern. Es ist wie im Straßenverkehr: Wer nur nach hinten schaut, verursacht vorne einen Unfall. So gesehen, dient die Vokabel „Nazi“ als Verharmlosung des Islamischen Terrors.

Abendländisches jüdisch-christliches Erbe
Sie schreiben zu diesem gehöre die Mizwa „Liebe den Fremdling wie dich selbst“. Tatsächlich kannte der Jude Jeschua von Nazareth dieses Gebot aus dem dritten Buch Moses und verwendete es laut christlicher Bibel in seiner Bergpredigt. Das aber war nicht im Abendland. Im Abendland ist die christliche Tradition ja gerade dadurch geprägt, dass sie zumindest gegenüber den Juden über Jahrhunderte nur wenig Liebe verspürte. Worin also besteht Ihrer Ansicht nach das „abendländisch jüdisch-christliche Erbe“?

Gegen diese inhaltslose Phrase, die ja erst in den 1950er Jahren als Wiedergutmachung in Mode kam, schreibe ich seit Jahrzehnten an. Die in Ihrer Frage enthaltene Skepsis ist absolut berechtigt. Sie betrifft allerdings mehr ein Problem der Kirche: Ihr ist Jesus abhandengekommen. Anders formuliert: Erst wenn die Kirche im Geiste Jesu bzw. jesuanisch spricht und handelt, wird sie christlich.

Bürgerkrieg
Sie sprechen in Deutschland angesichts vielerlei Faktoren (Untergang des Ostblocks, Massenwanderung u.a.) von „bürgerkriegsreifen oder sich am Rande des Bürgerkriegs entwickelte Situationen“. Noch aber sind die Anschläge von Paris die Tat einzelner Terroristen und die rassistische Pegida-Bewegung eine absolute Minorität. Inwiefern kann man da bereits von Situationen „am Rande des Bürgerkriegs“ sprechen?

Der deutsche Jude, Politiker und Unternehmer, Walther Rathenau, hat ein Buch mit dem Titel geschrieben „Von kommenden Dingen“. Der Volksmund kennt – dank der Hebräischen Bibel – den Ausdruck „Zeichen an der Wand“. Heinrich Heine hat dazu das grandiose Gedicht „Belsazar“ geschrieben. Auch ohne mit der Bibel oder Heine auch nur annähernd wetteifern zu können, ist es möglich, jene Zeichen an der Wand zu erkennen und zu benennen, die Sie erwähnen.

Nationalstaat
Sie machen auch schon in Ihrem Buch „Zum Weltfrieden“ das Festhalten am starren Nationalstaaten-Prinzip für viele Kriege und regionale Konflikte verantwortlich. Stattdessen fordern Sie ein radikales Umdenken – weg von traditionellen Staatenmodellen hin zu föderativen Systemen. Haben Sie Verständnis, dass ich solche Überlegungen als Europäer sympathisch, als Jude hingegen in Bezug auf Israel als bedrohlich empfinde?

Einerseits habe ich dafür Verständnis, andererseits nicht. Wie wäre es mit Lessings Nathan der Weise: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch?“ Das Judentum will bzw. soll „Licht für die Völker“ sein. Das heißt auch: Es gibt nur ein Licht. Dasselbe für Juden und Nichtjuden. Die von mir beschriebenen föderativen Strukturen würden Frieden bringen. Juden und Nichtjuden gleichermaßen. „Und wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“

Michael Wolffsohn:
„Zivilcourage – Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt“
94 Seiten, dtv, 7.80 €

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