Von der ehemals drittgrößten jüdischen Gemeinde der Welt  

  • September 9, 2016 – 6 Elul 5776
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September 9, 2016 – 6 Elul 5776
Reisetipp Odessa – eine ukrainisch-jüdische Perle am Schwarzen Meer

Von Dmitri Stratievski

Nur wenige Flugstunden (mit einem bequemen Umstieg zum Beispiel in Wien) oder knapp
1.800 km trennen Berlin von Odessa, der ukrainischen Millionenmetropole am Schwarzen Meer. Die Stadt bietet nicht nur lange Strände, mildes Klima, Architektur des Klassizismus und das gesellschaftliche Phänomen „Mythos Odessa“. Die Einheimischen nennen sie „Perle am Meer“. Angesichts der Geschichte Odessas wäre die Bezeichnung „jüdische Perle am Meer“ treffend.

In diesem September wird Odessa 222 Jahre jung. Die Stadt wurde per Erlass der Zarin Katharina der Großen in einer für das Russische Reich strategisch wichtigen, frisch eroberten Region gegründet. Gedacht als eine der Festungen im Süden im Kontext des russischen Machtanspruchs gegen die Osmanen, entwickelte sich Odessa zu einem für die damaligen russischen Verhältnisse einzigartigen Ort: weltoffen, ausländer- und minderheitenfreundlich, tolerant in Bezug auf verschiedene Religionen und Lebensstile. Wirtschaftlich gesehen, zog die Stadt viele Kaufleute und Zuzügler wie ein Magnet an, weil sie 1819-1858 neben dem wesentlich kleineren Feodosija auf der Krim als erste Freihandelszone Russlands fungierte, nach italienischer Art „porto franco“ (freier Hafen) genannt. In den Namen der Straßen Odessas spiegelt sich die Vielfalt des Stadtlebens aus dieser Zeit: Griechische, arnautische (damalige Bezeichnung für die Albaner), italienische, französische. Und eine Jüdische Straße.

Tatsächlich waren die Juden Mitbegründer der „Perle am Meer“. Patricia Herlihy gibt in ihrem Buch „Odessa: A History, 1794-1914“ an, dass der älteste bekannte jüdische Grabstein mit 1770 datiert wurde. Damit belegt man die Existenz einer jüdischen Gemeinschaft in der Vorgängersiedlung, im osmanischen Gadschibei. Im Stadtarchiv wird eine Schrift mit der Signatur des ersten Odessaer Bürgermeisters Josep de Ribas aufbewahrt, nach der in Odessa 1795, das heißt ein Jahr nach der Stadtgründung, 106 russische, 213 ukrainische, 24 griechische und 240 jüdische Bürger lebten. Pinchas Minkowski, Kantor, Komponist und Gesangstheoretiker, sagte einst über seine Wahlheimat: „Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts funktionierten in Odessa gewisse Strukturen, die dauerhafte Aktivitäten der jüdischen Gemeinde ermöglichten. Hier könnte man ein neues Leben führen“. Der Strom der jüdischen Einwanderer riss während des ganzen 19. Jahrhunderts nicht ab und war sehr gemischt: Kleinhandwerker und Lastenträger aus Podolien, Wolhynien und Belarus, Aufklärer aus Galizien und Deutschland, österreichische Ärzte, Petersburger Anwälte und Apotheker. Die Newcomer ließen sich in jedem Stadtteil nieder. Die jüdischen Geschäftsleute waren berechtigt, Verträge mit dem Staat abzuschließen und die Garnisonstruppen mit Lebensmitteln zu versorgen, was im restlichen Reich im Zeichen des grassierenden Antisemitismus unmöglich gewesen wäre.

Das Judentum von Odessa der Neuzeit (um 1900 etwa 35 % der Gesamtbevölkerung, nach New York und Warschau die drittgrößte jüdische Gemeinde der Welt) wies mehrere Besonderheiten im Vergleich zu seinen Glaubensgenossen in ganz Russland auf. In der jüdischen Gemeinde von Odessa herrschten heterogene Einkommensverhältnisse. Während die Mehrzahl der Juden in den meisten Orten innerhalb des Ansiedlungsrayons ein elendes Dasein fristete, gab es in Odessa sowohl sehr Reiche, als auch Mittelständler und Arme. 1910 gehörten 56% der Lebensmittelgeschäfte und alle 59 Damenmaßschneidereien der Stadt jüdischen Besitzer. 70% der Ärzte waren jüdisch. Sieben der zehn größten Banken Odessas waren in jüdischer Hand. Zugleich lebte ein Drittel der jüdischen Odessiten in Armut. Juden bildeten die Mehrheit der Stauer im Hafen, deswegen wurde eine mit Be- und Entladung von Schiffen beschäftigte Person in der Stadtfolklore zum Symbol der jüdischen Schwerstarbeit.
Jüdische Proletarier gab es also auch in großen Mengen.

Es gab außerdem 70 jüdische Bildungszentren, deren Einrichtung durch einen Sonderaufschlag beim Verkauf des koscheren Fleisches finanziert wurde, die einzige jiddischsprachige Zeitung Russlands „Kol mevanser“ (Informierende Stimme), die einzige russische Zeitschrift zur jüdischen Problematik „Rasswet“ (Morgenrot) sorgten für die Aufklärung. Steven J. Zipperstein, Professor für jüdische Kultur und Geschichte an der Stanford University, nannte die jüdische Gemeinde von Odessa „am fortgeschrittensten im ganzen Ansiedlungsrayon des Reiches“. Darüber hinaus waren die Odessaer Juden der Ober- und Mittelschicht durch die starken Integrationstendenzen gekennzeichnet, die für manche Forscher wie Joseph Teluschkin an Assimilation grenzten. Das Judentum der Stadt pflegte zwar eigene Traditionen, fühlte sich aber zugleich nicht abgesondert, sondern als Teil des gesamtstädtischen Gebildes. Jüdische Kinder besuchten staatliche Schulen. 1886 waren 31% der Medizin- und 41% der Jura-Studenten jüdisch. Im karitativen Bereich unterstützen jüdische Wohlhabende ihre nichtjüdischen Mitbürger. 1879 wurden im ausschließlich durch die Privatspenden getragenen Jüdischen Krankenhaus (heute im Volksmund immer noch so bezeichnet) 337 Christen behandelt. Dessen Chefarzt Grigorij Rosen wurde ausnahmsweise zum russischen Generalmajor befördert. Im Jahr 1873 gegründeten Jüdischen Kagane-Waisenhaus standen laut Statut für „Hilfsbedürftige unabhängig vom Glauben“ alle Türen offen. Schließlich durften die Juden seit 1783 für die Selbstverwaltung der Stadt vorgeschlagen werden und somit das öffentliche Leben mitbestimmen. Bereits im ersten Stadtrat gab es zwei jüdische Mitglieder.

Die von den Zarenbehörden geduldeten antijüdischen Pogromen, von allem im Jahr 1905 mit 400 toten und 50.000 obdachlos gewordenen Odessiten, beschleunigten die Verbreitung des zionistischen Gedankens. Die Idee des „Palästinensischen Komitees“ von Leon Pinsker entwickelte sich nachhaltig und nahm neue Form an. Es wurden die russlandweit einzige formell zugelassene „Palästinensischen Gesellschaft von Odessa“ sowie der Kadima-Verein ins Leben gerufen. Fast alle Anführer der zionistischen Bewegung wie Wladimir Zeev Jabotinsky, Wassilij Rosen, Meir Dizengoff, Ascher Hirsch Ginsberg und andere waren gebürtige Odessiten oder verbrachten viele Jahre in der Stadt. Im November 1907 stellte die St. Petersburger Zeitung „Russkloe slowo“ fest: „Die Bevölkerung Odessas ist deutlich kleiner geworden, überwiegend durch die jüdische Abwanderung. Jetzt leben in der Stadt 100.000 Menschen weniger als vor drei Jahren“. Trotz beträchtlicher Abwanderungszahl blühte das jüdische Leben in Odessa selbst in den turbulenten Wendejahren des 20. Jahrhunderts. Von 188 zwischen 1917 und 1920 in Russland erschienenen hebräischsprachigen Büchern wurden 109 in Odessa gedruckt.

Im Zweiten Weltkrieg wurde Odessa Schauplatz des Holocausts. Ende 1941 stellte die rumänische Besatzungsmacht eine Liste von 60.000 in der Stadt gebliebenen Odessiten jüdischer Herkunft zusammen. Sie wurden im Rahmen der großen Vernichtungsaktionen 1942 ermordet. Die sowjetische Militärverwaltung berichtete nach der Befreiung der Stadt 1944 von knapp 600 Überlebenden, darunter jüdische Untergrundkämpfer.

In der Nachkriegszeit fiel Odessa in Ungnade. Die von Moskau ernannten Partei- und KGB-Chefs der Stadt gelten als restriktiv und rigoros. Odessiten, in erster Linie die Juden, wurden als regierungskritische Rebellen angesehen, deren freier Geist als potentielle Gefahr für die Sowjetmacht empfunden wurde. Bis 1989 gab es in der Stadt nur eine Synagoge. Die anderen Gebetshäuser wurden als Archive, Unterrichtsräume einer Hochschule, Sporthallen und Wehrämter benutzt. In den 70er Jahren, dem Höhepunkt der Verfolgung jüdischer Aktivisten, wurden mehrere Ausreisewillige zu Haftstrafen verurteilt. Da das sowjetische Strafgesetzbuch keine Fahndung wegen Migrationsbestrebens vorsah, ermittelte die Staatsanwaltschaft hauptsächlich wegen der „Verbreitung von lügnerischen Informationen über die sowjetische Staatsordnung“.

Die wohl bekannteste Verurteilte war Rejsa Palatnik. 1971 wurde Palatnik das Aufbewahren der verbotenen Schriften jüdischer Autoren der Chruschtschow‘schen Zeit sowie der Notizen zur Situation in Israel zur Last gelegt. Sie wurde zu zwei Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Im Lager lebte sie in einer Baracke mit Schwerkriminellen. 27 prominente Leningrader Juden richteten mutig unter Angaben eigener Daten eine Petition an den Parlamentsvorsitzenden der Sowjetukraine und fordern die Freilassung Palatniks. 1973 wurde sie entlassen und wanderte nach Israel aus. Im kurzen Zeitraum der politischen Entspannung haben über 17.000 Juden die Stadt verlassen. In den 90er Jahren kam es zu einer neuen Auswanderungswelle. Die Beweggründe waren diesmal überwiegend nicht politisch, sondern wirtschaftlich. Allein 1989-1990 hat das zuständige städtische Amt 16.500 Ausreiseanträgen von jüdischen Bürgern stattgegeben. Laut einer wenige Jahre später durchgeführten Umfrage kannte die Hälfte der Befragten mindestens einen ehemaligen Mitschüler jüdischer Abstammung, der in ein anderes Land übersiedelte.

Heute leben in Odessa etwa 30.000 Juden. Boleslaw Kapulkin, Pressesprecher der jüdischen Gemeinde der Stadt, freut sich über einen Trendbruch: 2001 gab es in Odessa rund 13.000 Juden. Er fügt hinzu: „Wir haben unsere Gemeinde wiederaufgebaut“. Die Vergangenheit und Gegenwart des Judentums spürt man heute an jeder Ecke der Altstadt. Die Straße, auf der die Polizei- und Geheimdienstzentralen der Region sowie eine renovierte Synagoge stehen, heißt wieder Jewrejskaja. Im jüdischen Museum sieht man eine Kommode, die einst dem großen jüdisch-russischen Schriftsteller Isaak Babel gehörte, oder ein Werbeblatt der Zionistischen Liste von Odessa 1918. Der Abschluss der Jüdischen Odessa-Universität ist staatlich anerkannt. Die größte Musikschule der Stadt trägt den Namen des Musikers und Pädagogen Pjotr Stoljarski, deren Schüler und ebenso Odessiten Dawid Ojstrach, Jelisaweta Gilels und Oskar Feldman die Geschichte der modernen Musik mitgeschrieben haben. An die düsteren Zeiten erinnern die nach dem Muster von Yad Vashem gestaltete „Allee der Gerechten unter den Völkern“ und das Denkmal für die ermordeten Juden Odessas. Im jüdischen Theater „Migdal-Or“ spielt man die Stücke von Scholem Alejchem, Boris Razer und Jefim Smolin.

Ab ins Flugzeug - die Stadt ist einen Besuch wert!

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