Von Peter Bollag (Redaktion Audiatur)
Nach dem Trauertag Tischa Be’Aw (er fiel in diesem Jahr auf den 29. Juli) beginnt vor allem in den Bergen der „jüdische Tourismus“ wie jeden Sommer so richtig zu florieren – Tausende, oft orthodoxe, aber auch weniger observante Gäste aus Israel, den USA, Belgien und vielen anderen Ländern bevölkern dann bis ca. Ende August wieder Dörfer und Kurorte in den Alpen.
Vermutlich werden in diesem Jahr der Euro-Schwäche und -Krise auch weniger jüdische Touristen in die Schweiz kommen, sondern vielleicht eher eines der Nachbarländer wie Österreich oder Frankreich auswählen. Aber Davos im Kanton Graubünden, die heimliche und inoffizielle jüdische Sommerhauptstadt Europas, wird auch in diesem Sommer wieder von vielen jüdischen Touristen besucht werden, so viel lässt sich jetzt schon voraussagen.
Zwar gibt es dazu keine offiziellen Zahlen, denn die Gäste werden selbstverständlich nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit, sondern nach ihrer Nationalität erfasst. Aber wenn im 13.000-Seelen-Ort an einem Freitag im Durchschnitt im August ca. 1.500 Challot (Schabbat-Brot) bestellt werden, kann man sich die jüdische Präsenz im Ort etwa ausmalen: sie geht in die Hunderte, wenn nicht gar in die Tausende.
Entsprechend gibt es zwei kurzzeitige koschere Hotels, mehrere Verpflegungsmöglichkeiten und vor allem unzählige kleinere Synagogen und Gebetsstuben. Die jüdische Präsenz in Davos geht im Übrigen weit zurück – und hat natürlich auch damit zu tun, dass früher auch jüdische Lungen-Patienten hierherkamen, um sich hier gesund pflegen zu lassen. So entstand auch die jüdische Heilstätte „Etania“, die auch noch dann weitergeführt wurde, als es längst keine Lungenkranken mehr gab – bis sie schließlich geschlossen werden musste, weil sie als Hotel einfach nicht mehr zeitgemäß war. Die vielen auswärtigen Gäste hatten nach 1933 für den seltsamen Effekt gesorgt, dass hier auf engem Raum jüdische Gäste auf einen Bevölkerungsteil trafen, der sich weitgehend dem Nationalsozialismus angeschlossen hatte: die ortsansässigen Deutschen, verstärkt durch Gäste aus dem Reich. Bis er vom Studenten David Frankfurter 1936 erschossen wurde, leitete hier Wilhelm Gustloff denn auch „die Landesgruppe Schweiz der NSDAP“ – Erinnerungen der weniger schönen Art in Davos.
Zurück in die Gegenwart: Dass der Ort auch im Hinblick auf den jüdischen Tourismus weniger „Euro-anfällig“ ist als andere Destinationen in diesem Sommer, dürfte auch damit zusammenhängen, dass Davos sehr viele inländische jüdische Gäste hat – die kommen vor allem aus dem Großraum Zürich. Nicht zuletzt die relative Nähe und eben die gute koschere Infrastruktur sorgt jeweils dafür, dass aus der Limmatstadt in diesen Wochen viele orthodoxe, aber auch eher „säkulare“ jüdische Touristen nach Davos kommen, um hier ihre Ferien oder zumindest ein langes Wochenende verbringen. Die Zusammenarbeit der Davoser Tourismusbehörden mit dem Zürcher Rafi Mosbacher, einem bekennenden Davos-Fan, hat hier vor einigen Jahren den Boden dafür geebnet und zum Beispiel auch dafür gesorgt, dass es heute ein Merkblatt gibt mit dem Titel „Tipps und Hinweise für jüdische Feriengäste in der Landschaft Davos“.
Die Verbindung Zürich-Davos sorgt nun auch dafür, dass der Welt-Kurort in den Bündner Bergen zu einem Event der besonderen Art kommt: am Schweizer Nationalfeiertag, am 1. August, also, findet in Davos der 12. Sijum Haschass stattfinden. Sijum Haschass: an diesem Tag beenden observante Juden in der ganzen Welt zur gleichen Zeit die Lektüre des Talmud-Studiums, des „Daf Jomi“ (Hebräisch für „tägliches Blatt“).
In rund siebeneinhalb Jahren lernen Juden jeweils den babylonischen Talmud durch: die Initiative für diese religiöse Zeremonie ging 1923 vom polnischen Rabbiner Meir Schapira aus, sein revolutionärer Vorschlag setzte sich nach anfänglicher Skepsis durch – und heute wird die Beendigung dieser religiösen Lektüre überall dort, wo es große jüdische Gemeinden gibt, mit einer großen Feier, Musik und einem guten Essen begangen.
So nun also auch in Davos – dort haben die Organisatoren den Kongressaal gemietet – also jenes Zentrum, wo sich Ende Januar jeweils die Mächtigen der Welt für das WEF versammeln – das Publikum, das am 1. August hierherkommt, wird optisch leicht anders aussehen als die WEF-Gäste (wiewohl auch dort vereinzelt oft in den Delegationen orthodox-jüdische Vertreter dabei sind).
Ein Blick auf die Teilnehmer-Liste des Sijum Haschaas beeindruckt ziemlich: etliche rabbinische Autoritäten, z.B. der Leiter der Thorahochschule von Poniwesch, Rav Berel Powarski oder der Wischnitzer Rebbe Rav Mendel Hager, wollen an der Zeremonie teilnehmen – ebenso wie weniger prominente Gäste aus ganz Europa.
Bei Davos Tourismus wusste man einige Tage vorher zwar noch nichts von diesem bald stattfindenden Großereignis, zeigt sich aber – von Audiatur auf die Veranstaltung hingewiesen – hoch erfreut darüber und wertet es als weiteres Zeichen dafür, dass Davos wirklich die jüdische Sommerhauptstadt Europas ist – und es vermutlich auch noch einige Zeit bleiben wird.
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