Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich Tausende osteuropäische Juden auf den Weg gemacht, das Elend des Ghettos hinter sich zu lassen. Jenseits des Ozeans, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sollten ihre Träume von Freiheit und Reichtum Wirklichkeit werden. Doch schon bald erfuhren die Einwanderer, dass die USA nicht das erhoffte Paradies waren. Eingepfercht in Mietskasernen und schlecht bezahlte Arbeit – vornehmlich in der Textilindustrie, so sah ihr Alltag aus. Und so glaubten viele Juden daran, dass eine Befreiung aus dieser Situation nur durch die Überwindung des kapitalistischen Systems herbeigeführt werden könnte.
Die sozialistische Zeitung „Forverts“ war das Organ dieser Menschen. Seit 118 Jahren begleitet die Stimme der Gewerkschaftler und Linken das jüdische Leben in Amerika. Gegründet wurde diese Zeitung 1897 von Abraham Cahan. Da die Mehrheit der Einwanderer nur schlecht oder gar kein Englisch sprach, lag es auf der Hand, dass der „Forverts“ in Jiddisch gedruckt wurde. Neben politischen Einschätzungen – bis 1917 hatte Philipp Scheidemann eine regelmäßige Kolumne – und der Pflege der jiddischen Literatur (Nobelpreisträger Issac Singer veröffentlichte fast alle seine Werke als Vorabdruck), gab der „Forverts“ praktische Anleitungen, um sich in der neuen Heimat zurechtzufinden.
Das Blatt war und ist, trotz aller Intellektualität, eine Zeitung für die Werktätigen. Nicht von ungefähr wird die Anekdote eines jungen Universitätsabsolventen erzählt, der in Cahan‘s Büro kam, um ihm einen Artikel zu verkaufen. Cahan rief daraufhin seine Sekretärin, händigte ihr das Manuskript aus und sagte: „Geben Sie das dem Liftboy, wenn er es versteht, drucken wir es ab.“ Die bekannteste Artikelserie war „a Bintel Brief“ (ein Bündel Briefe), eine Rubrik, die Leserfragen beantwortete. Von Kindererziehung, Moralvorstellungen bis hin zu Familienstreitigkeiten wurde hier alles abgehandelt. Erst nach über 60 Jahren – Ende der 1970er – wurde „a Bintel Brief“ eingestellt.
In den 1920er Jahren lag die Zahl der verkauften Exemplare bei etwa 280.000 täglich. Doch diese Zeiten gehören längst der Vergangenheit an. Heute gibt es keine Konflikte mehr zwischen Schtetl-Mentalität und der modernen amerikanischen Lebensführung. Die Menschen haben den „American way of life“ übernommen, nur noch wenige sind der jiddischen Sprache mächtig. Die Auflage der Zeitung sinkt kontinuierlich.
Anfang der 1990er Jahre überzeugte Seth Lipsky, ein ehemaliger Redakteur des „Wall Street Journals“ die Macher des „Forverts“, dass langfristig nur eine englischsprachige Ausgabe des Blattes das Erbe der jüdischen Kultur in New York erhalten kann. Seit dieser Zeit haben auch die Kinder und Enkel der Einwanderergeneration die Gelegenheit, die Zeitung ihrer Eltern und Großeltern zu lesen. Für die amerikanischen Juden, die der jiddischen Sprache nicht mehr mächtig sind, ist es eine Möglichkeit, sich ihrer osteuropäischen Wurzeln zu erinnern. Aber auch für den englischen „Forward“, eine moderne, liberal ausgerichtete Zeitung, haben neben der Pflege der jüdischen Kultur die Themen „soziale Gerechtigkeit“ und „Bürgerrechte” hohe Priorität. Damit knüpften sie an die Tradition des jiddischen „Forverts“ an. (...)
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