1492 – Kolumbus bricht mit drei Schiffen nach Westen auf und betritt den amerikanischen Kontinent. Auch wenn heute hinlänglich bekannt ist, dass Kolumbus weder zum ersten Mal den Atlantik überquert, noch Amerika entdeckt hat, gilt dieses Jahr bis heute als Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit. Ein ruhmreiches Jahr also?
Aus Sicht des jüdischen Volkes wohl kaum. Denn 1492 kam es auch zur Vertreibung abertausender Juden aus Spanien, den Sepharden, die seit dem ersten Jahrhundert nach Christus auf der Iberischen Halbinsel beheimatet waren, darunter bedeutende jüdische Gelehrte und Künstler.
Zur Vertreibung der Sepharden kam es im Zuge der Reconquista (Rückeroberung), ein seit vielen Jahrhunderten andauernder Machtkampf zwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel, der schließlich in der vollständigen Eroberung aller Herrschaftsbereiche durch die Christen gipfelte. Nach der Unterzeichnung des Decreto de la Alhambra (Alhambra-Edikt) durch das königliche Ehepaar Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón wurden alle Juden, die nicht zum Christentum konvertierten, vertrieben – ein historisches Ereignis, das weniger in der Geschichtsforschung, mehr dafür in der romanischen Sprachwissenschaft Beachtung erlangt.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Neben der iberischen Kultur hatten die Sepharden außerdem ihre Sprache im Gepäck, die sie auch in den neuen Siedlungsgebieten in Nordafrika, Westeuropa und dem Osmanischen Reich pflegten. Bis heute konnte auf diese Weise eine Sprache konserviert werden, die letztendlich mit dem Stand im 15./16. Jahrhunderts übereinstimmt – wenngleich von der Kontaktsprache der jeweiligen neuen Umgebung stark beeinflusst.
Sephardische Gemeinden bildeten sich insbesondere in Marokko, Frankreich, Holland, Griechenland, Türkei und Serbien. Die Sprache dieses jüdischen Volksstammes wird heute – zumindest im sprachwissenschaftlichen Kontext – als Judenspanisch bzw. Djudeo-Espanyol oder Judeo-Español bezeichnet. Daneben sind weitere Bezeichnungen, wie Ladino, Djudezmo, Djudio, Djidio, Espanyolit, Jargon, Yahudice und Hakitia, gebräuchlich, die sich meist auf eine bestimmte lokale Ausprägung beziehen. So ist mit Hakitia beispielsweise die Sprache der marokkanischen Sepharden gemeint. Auch der neutralere Begriff Sephardisch ist mittlerweile geläufig.
Nach dem Niederlassen in der Fremde brachen nach und nach die Verbindungen zur ehemaligen Heimat ab, sodass das Spanische der Sepharden in der Diaspora völlig isoliert war von jenem Spanisch, das auf der Iberischen Halbinsel gesprochen wurde. Das sprachliche Erbe aus dem 15. bzw. 16 Jahrhunderts ist im Judenspanisch vor allem im Grundwortschatz, in der Aussprache und Grammatik gegenwärtig. Neben spanischen und, wenn auch in geringerem Maße, portugiesischen sowie katalonischen Wörtern sind zudem lexikalische Elemente aus dem Italienischen, Arabischen, Griechischen, Türkischen, Französischen oder Slawischen auszumachen – natürlich davon abhängig, in welchem Gebiet sich die Sepharden nach ihrer Vertreibung ansiedelten. Als jüdische Sprache beinhaltet das Sephardische darüber hinaus Einflüsse aus dem Hebräischen und Aramäischen, vor allem Wörter aus den Lebensbereichen Kultur, Religion und Brauchtum stammen aus dem Hebräischen.
Schon wenn man sich nur mit den Grundsätzen des Judenspanisch auseinandersetzt, wird überdeutlich, dass es sich um ein höchstkomplexes Gebilde handelt, das nicht nur Zeugnis ablegt über die sephardische Diaspora, sondern uns ein besseres Verständnis über das Spanisch vergangener Zeiten im Speziellen und die Entwicklung europäischer Sprachen im Allgemeinen vermitteln kann.
Offensichtlich wird dies am besten an Wörtern, die nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus ins Spanische Eingang fanden, zum Beispiel das Wort tabaco für „Tabak“, das zum ersten Mal Mitte des 16. Jahrhunderts für das Spanische belegt ist, also zu einer Zeit, in der die Sepharden nicht mehr auf der Iberischen Insel lebten. Das Sephardische kennt tabaco deshalb nicht. Sepharden, die sich im Osmanischen Reich angesiedelt hatten, bezeichneten „Tabak“ stattdessen als tutun. Es handelt sich dabei um ein Lehnwort aus dem Türkischen, abgeleitet von tütün. In diese Zeit fiel außerdem der europäische Siegeszug der Kartoffel. Für die Nutzpflanze bildeten das Judenspanisch und Spanisch deshalb ebenfalls unterschiedliche Bezeichnungen aus. Während man in Spanien batata sagte, übernahmen die Sepharden in Südosteuropa den bosnischen Begriff kumpir, der sich aus dem Deutschen (krompir) ableitete.
Auf diese Weise übernahmen die Sepharden erst ein paar wenige und im Laufe der Jahrhunderte eine immer größere Zahl an Wörtern der Umgebungssprache. Es handelt sich um einen sukzessiven Sprachausbau, der von neuen Ausdrucksbedürfnissen der Sprachgemeinschaft motiviert war, zum Beispiel, um einen neuen Gegenstand im Alltag bezeichnen zu können.
Der Lehnwortbestand wuchs, sodass eine einzigartige Sprachmischung bzw. Mischsprache entstand. An dieser Stelle ist es vielleicht nicht völlig verkehrt, mit dem Vorurteil, Mischsprachen seien etwas Unvollständiges oder gar Minderwertiges, entschieden aufzuräumen. Alle Sprachen weltweit sind seit jeher Produkte gegenseitiger Durchdringung. Keine Sprache ist autark oder besitzt starre, unveränderliche Strukturen. Ganz im Gegenteil: Sprachen sind höchst heterogene Gebilde, die miteinander in Kontakt stehen und sich aufgrund dieses Kontaktes verändern – auch gegenwärtig. Eine reine Sprache gibt es daher nicht und ist auch kein abhandengekommenes Ideal, das durch eine angestrengte Sprachhygiene erreicht werden müsste.
Doch kehren wir nochmal zum Sephardischen zurück: Wie ist es heute? Wo können wir Sprechern des Judenspanisch begegnen? Die Antwort darauf stimmt traurig, denn tatsächlich gibt es selbst in den großen sephardischen Gemeinden, zum Beispiel in Paris, wo sephardische Juden einen sehr großen Anteil an der jüdischen Gemeinde bilden, nur noch wenige Personen, die die Sprache aktiv beherrschen. Aktuelle Schätzungen gehen weltweit von 25.000 bis 100.000 Menschen aus, die Judenspanisch sprechen – verlässliche Zahlen gibt es nicht. Doch rechnen Sprachwissenschaftler damit, dass dem Judenspanisch wie vielen anderen Minderheitensprachen auf der Welt der Sprachtod droht.
Was bleibt, ist der literarische Nachlass der Sepharden. Insbesondere religiöse, aber auch nichtreligiöse Lieder, Gedichte, Sprüche und Weisheiten sind in den ersten Jahrzehnten nach der Vertreibung aus Spanien entstanden. Dem folgten Theaterstücke, Romane und Kurzgeschichten sowie einige Zeitungen und Zeitschriften, die zum Teil noch heute verlegt werden, zum Beispiel die türkische Zeitung „Şalom“. Einige Wissenschaftler deuten das Interesse am Sephardischen heute lediglich noch als ein Zeichen von Nostalgie, das nichts daran ändert, dass es in der nächsten oder übernächsten Generation keine aktiven Sprecher mehr geben wird. Dann wird das Judenspanisch schließlich nur noch seinen Zweck als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung erfüllen.
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