Von Rabbiner Elischa Portnoy
Wenn Sie jemanden auf der Straße fragen, welche Gemeinsamkeit die drei großen monotheistischen Religionen haben (Judentum, Christentum und Islam), würde praktisch jeder Befragte antworten: alle glauben an gleichen G’tt.
Wenn Sie jedoch fragen, was das Judentum grundlegend von den beiden anderen Religionen unterscheidet, wäre das für die meisten sicherlich schon viel schwieriger zu beantworten.
Und ja, es gibt wesentliche Unterschiede, und zwar gleich zwei: Juden missionieren nicht und das Judentum garantiert auch gerechten Nichtjuden einen Platz im Himmel nach dem Ableben in dieser Welt.
Das bedeutet, dass wenn ein Nichtjude an G’tt glaubt und ein moralisches, „heiliges“ Leben führen möchte, muss er dafür nicht unbedingt zum Judentum konvertieren. Er kann auch als Nichtjude ein solches Leben führen und nach dem Tod mit ewigem Leben im Paradies von G’tt belohnt werden.
Doch was bedeutet „gerechtes Leben“? Was ist die Grundlage dafür und wer entscheidet darüber?
Unsere Weisen geben darauf eine klare Antwort: wenn für die Juden die 613 Gebote der Thora maßgebend sind, so sind es für die Nichtjuden die sieben sogenannte „Noachidischen Gebote“.
Noachidische Gebote (oder Gebote von Bnej Noach) sind die Gesetze, die G’tt allen Menschen gegeben hat. Und da gerade vom Noach (Noah) nach der Sintflut die ganze Menschheit neu entstanden ist, werden die Gesetze für die Menschheit als die Gebote der Nachkommen von Noach bezeichnet. Jedoch, auch wenn die Juden ein Teil von Noachs Nachkommen sind, versteht man unter diesem Begriff die Gesetze nur für Nichtjuden.
Diese 7 Gesetze lauten:
1) Das Verbot des Götzendienstes
2) Das Verbot der Gotteslästerung
3) Das Verbot des Blutvergießens (Mord)
4) Das Verbot von sexueller Unmoral
5) Das Verbot des Diebstahls
6) Das Verbot Fleisch eines noch lebenden Tieres zu essen
7) Das Gebot ein gerechtes Gerichtssystem aufzubauen
Stellt sich jedoch die Frage, woher wir diese Gesetze kennen und wo wir sie finden. Alle diese Gesetze sind in der Thora (Bibel) enthalten, jedoch nicht unter diesem Begriff. Unsere Weisen leiten diese Gesetze im Talmud ab. So werden zu Beispiel sechs Gebote aus dem Vers 2:16 im 1. Buch Moses abgeleitet und das Verbot Fleisch eines noch lebenden Tieres zu essen aus dem Vers 9:4 „Nur esset das Fleisch nicht, während seine Seele, sein Blut, noch in ihm ist!“.
Man könnte fragen, ob das Ganze nicht viel zu einfach ist: nur wenn man diese wenigen und anscheinend nicht so komplizierten Gebote, die sowieso in vielen Rechtsystemen verankert sind, hält, wird man heilig?
Die Antwort ist: natürlich ist es nicht so einfach! Diese sieben Gebote sind nur eine Basis, die Grundprinzipien sozusagen. Jedes Gebot beinhaltet mehrere „Paragraphen“. Wenn man zum Beispiel das 4. Verbot (Unzucht) betrachtet, so ist es einem Mann damit verboten, geschlechtliche Beziehungen mit einer fremden Frau zu führen. Ebenso ist es einer Frau verboten, geschlechtliche Beziehungen mit einem fremden Mann zu führen. Die Verbote mit Verwandten geschlechtliche Beziehungen zu haben, gelten für Mann und Frau gleichermaßen, sowie gleichgeschlechtliche Beziehungen und sexuelle Handlungen mit Tieren. Es ist einem Mann ebenso verboten, eine Frau zu vergewaltigen und Minderjährige zu verführen.
Wenn diese Verbote in ihrer Mehrzahl auch von der heutigen Gesellschaft angenommen sind, so sind doch einzelne Regeln durchaus umstritten. So beinhaltet zum Beispiel das Verbot des Blutvergießens auch Abtreibung und Sterbehilfe, die in diesem Kontext als Mord gelten.
Bei manchen Geboten können die einzelnen Vorschriften den modernen Menschen schon sonderbar erscheinen. So zum Beispiel darf ein Arbeiter, der für einen Bauer die Ernte auf dem Feld sammelt, während seiner Arbeit etwas davon essen. Wenn jedoch dieser Arbeiter am gleichem Feld etwas von der Ernte isst, während er nicht bei der Arbeit ist, übertritt er das Verbot des Diebstahls. Rambam (1135-1204) merkt in seinem Werk „Mischne Tora“ (Hilchot Melachim uMelchamot 9:9) an, dass wenn ein Nichtjude von seinen Nächsten auch nur eine kleinste Münze gestohlen hat, dies schon ein echter Diebstahl ist, für den er gerichtet werden muss! In unserer, eigentlich sehr fortgeschrittenen Gesellschaft, die viel Wert auf Recht und Eigentumsschutz legt, würde dieser Gesetz wohl nur ein Lächeln hervorrufen.
Wenn man also alle „Unterparagraphen“ zusammenzählen würde, so würde man auf mindestens 66 Gesetze kommen – was das Ganze schon nicht mehr so simpel erscheinen lässt.
Auch das einzige Gebot „ein gerechtes Gerichtssystem aufzubauen“ ist enorm wichtig und nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Rambam schreibt in Halacha 9:14, dass nach der Vergewaltigung von Jakobs Tochter Dina in der Stadt Schchem (1.Buch Moses 34) nur deshalb alle Bewohner dieser Stadt von Schimon und Levi umgebracht wurden, weil diese Bewohner den Vergewaltiger entsprechend den Noachidischen Gesetzen nicht gerichtet haben. Dabei war der Vergewaltiger niemand anderes als Chamor, der Sohn des Herrschers. Daraus lernen wir, dass die Bürger gegen Ungerechtigkeit sogar in einer Diktatur aufstehen sollen.
Wer ist ein Noachide?
Es stellt sich die Frage, ob jeder einzelne Nichtjude, der mit diesen Regeln einverstanden ist und entsprechend zu leben versucht, schon ein Noachide ist. Dem ist aber nicht so: unsere Weisen betonen, dass ein Nichtjude nur dann zum Noachiden wird, wenn er diese Gesetze als Teil der G’ttlichen Offenbarung auf dem Berg Sinai akzeptiert. Also, die Akzeptanz dieser Gesetze soll auf Basis der Mündlichen Thora (Talmud) erfolgen. Rambam schreibt in Halacha 8:11, dass wenn ein Nichtjude diese Gesetze befolgt, weil sie ihm einfach nur „logisch und schön“ erscheinen (aber nicht, weil sie von G’tt gegeben wurden), ist er weder ein Gerechter, noch ein weiser Mensch.
Deshalb gibt es heutzutage viele Nichtjuden auf der ganzen Welt, die diese Gesetze für sich entdecken und unter der Leitung von erfahrenen Rabbinern versuchen nach diesen Regeln zu leben. Und natürlich bedeutet ein Noachide zu sein nicht nur das Halten von den erwähnten Geboten und Verboten. Es beinhaltet auch die Gebete, die Feste und Bräuche (Heirat, Beerdigung usw.) und alles, was zu einem religiösen Leben gehört. (…)
Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.
Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.