Der Bankrott des Gesinnungs-Journalismus und der Fall Relotius  

Januar 11, 2019 – 5 Shevat 5779
„Haltung“ ist das Unwort des Jahres 2018

Von Mario Thurnes

„Haltung“ war 2018 das Modewort im Journalismus. Dahinter steckt die Idee, nicht nur berichten zu wollen, sondern Sinnstiftung zu liefern und für politische Grundwerte einzutreten. Nebelig formulierte Werte, unter denen „Kampf gegen Rechts“ noch zu den konkreteren zählt. Der Skandal um Claas Relotius zeigt, wohin dieser Abschied von den Werten des angelsächsischen Journalismus führt.

Es ist bewundernswert, wie der „Spiegel“ die Affäre Relotius aufarbeitet. So. Das muss jetzt reichen. Damit können wir wieder zu Themen übergehen, die dem linksliberalen Milieu besser liegen. Und falls das nicht reicht, um die Debatte zu beenden, können wir noch das Allzweckargument hinterher schieben: Der Fall dürfe nicht von Rechten instrumentalisiert werden.

Zwei Grundeigenschaften prägen die linksliberale Bewegung. Zum einen beanspruchen ihre Vertreter Doppelstandards. Weil sie die Guten sind, dürfen sie auch schlecht handeln. Schlechtes Verhalten für die gute Sache wird zu etwas Gutem. Minus mal Plus ergibt Plus. Das ist ok. Mit Mathematik nehmen es viele Linksliberale nicht so genau.

Die andere Grundeigenschaft: Linksliberale reden nicht gerne über ihre Niederlagen. Vor allem nicht über ihre weltweit größte, die sich in der Nacht zum 9. November 2016 ereignete: die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Es wäre eine kranke Aufgabe, alle beleidigenden Worte aufzuzählen, die alleine in deutschen Medien mittlerweile gegen Trump zitiert oder kommentiert wurden.

Gerade der „Spiegel“ schrieb sich auf seinen beiden Vertriebswegen in Rage gegen Trump. Erst galt die Hoffnung, ihn verhindern zu können. Dann die Erwartung eines schnellen Impeachments. Wishful Thinking, das teuer bezahlt wurde: mit der Erkenntnis, dass Journalisten in Deutschland so viel schreiben können, wie sie wollen – ohne dass sich in den USA deswegen etwas verändert. Der „Spiegel“ erinnerte mit seiner Berichterstattung über Trump in manchen Phasen an ein Baby, das sich trotzig in den Schlaf schreit.

Auch der Jungstar des „Spiegels“ und Multipreisträger Relotius schrieb über Trump. Dafür sei er in Fergus Falls in Minnesota gewesen, heißt es in der hauseigenen Aufarbeitung der Affäre. Und er habe Lügen erfunden, etwa dass am Ortseingang ein Schild erkläre, dass Mexikaner unerwünscht in der Stadt seien. Relotius habe zu solchen Lügen gegriffen, erklärt Ullrich Fichtner im „Spiegel“, weil er vor Ort keine Geschichte gefunden habe. „Keine Protagonisten, mit denen er etwas anfangen kann.“

Ernsthaft? Tagelang in einer Region, die eine Mehrheit der Deutschen noch nie besucht hat, mit extremem Wetter, wirtschaftlichen Problemen und einem bemerkenswerten Wahlergebnis für Trump – und doch keine Geschichte? Es gibt Journalisten, die lesenswerte Feature von Parteitagen schreiben – sogar von Pressekonferenzen. Andere füllen täglich mehrere Seiten mit Geschichten aus Pirmasens, Offenbach oder Flensburg. Und da soll sich in Minnesota keine Geschichte aufgetan haben?

Die Wahrheit passte nicht zum Erhofften
Wohl kaum. Es haben sich halt die falschen Geschichten aufgedrängt. Also hat Relotius die richtigen Geschichten geliefert: Das diskriminierende Schild am Ortseingang oder Biertrinker, die in einem Café mit Blick auf ein Kohlekraftwerk sich den Super Bowl anschauen.

Es ließen sich leicht die Gedankenblasen ausfüllen, die sich über den Köpfen der linksliberalen „Spiegel“-Leserschaft von „In einer kleinen Stadt“ gebildet haben: Biertrinkende Sportfans! Was für Hinterwäldler! Ein Kohlekraftwerk, wo doch jeder weiß, dass wir aus dieser Energie aussteigen müssen. Und natürlich Nazis! Trump und seine Wähler – alles Nazis!

In früheren Zeiten wurden Kindern Märchen erzählt, die den Feind als Monster darstellten. Diese Geschichten erfüllten mehrere Zwecke: Unterhaltung. Aber auch Erbauung. Denn wenn der Feind so tief in der Zivilisation angesiedelt ist, dann steht man doch selber ziemlich weit oben. Und letztlich kommt noch der ordinärste aller Zwecke der Propaganda hinzu: sich auf den Feind einschwören.

Relotius hat auch über Syrien geschrieben. Er hat die Geschichte eines Graffito Assads geliefert, das den syrischen Konflikt ausgelöst haben soll. Bleibt der „Spiegel“ wirklich bei seiner bequemen Erklärung? Weil Relotius keine guten Geschichten gefunden habe, habe er halt die erfunden. Keine guten Geschichten in Syrien? Ernsthaft?

Auch hier lassen sich dankbare linksliberale Kinder ein Märchen vom Feind erzählen. Und genau das war Assad für den „Spiegel“ und seine Leserschaft. Das Märchen hatte dann alle nötigen Elemente: Der Feind, der böse und brutal ist, der Aufstand der Guten, der keinen richtigen Grund zum Losbrechen gebraucht hat. Wie steht man da doch selber hoch in der Ordnung der Zivilisation.

Ein Platz der Übersicht. Der einzige, von dem aus man die Welt versteht. Und wenn man dann Wahlen verloren hat, muss man nicht eingestehen, keine Mehrheit zu haben. Schon gar nicht, dass die Mehrheit recht haben könnte. Man hat die Dinge einfach nur nicht gut genug erklärt – auch ein beliebtes Topic unter Linksliberalen. Zumal es die andere Seite dumm aussehen lässt.

Genau das ist die Attitüde des Haltungs-Journalismus. Die Briten dürfen nicht für den Brexit stimmen und die Amerikaner nicht für Trump. Und wenn sie es doch tun, haben sie es nur nicht richtig verstanden. Natürlich gibt es noch externe Faktoren: Das Internet. Die Bots. Die russische Propaganda. Und natürlich Rechte. Daher muss der „Kampf gegen Rechts“ weiter geführt werden.

Diesen Sinn müssen Geschichten ergeben: Rechte müssen schlecht aussehen. Trump-Wähler erst recht. Die eigenen Ideale müssen glänzen. Und wenn eine Geschichte dieses Kriterium nicht erfüllt, dann ist sie keine. Im besten Fall wird sie nicht erzählt. Im Katastrophenfall wird sie umgedichtet – und dann die Lüge aufgedeckt.

Ist es nur ein Einzelfall? Zum einen wird sich das zeigen. Wer 2015 die immer wieder erzählte Geschichte vom Flüchtling in Frage gestellt hat, der Geld gefunden und seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben hat, der war – natürlich – ein Nazi, Pegida-Anhänger, Aluhut-Träger und so weiter. Heute steht auf „Spiegel Online“ vor einer solchen Geschichte ein Hinweis in eigener Sache: Fälschungsverdacht. Solche Geschichten zu hinterfragen und zu prüfen, werden sich nun mehr trauen und motiviert sehen. Es bleibt abzuwarten, was dabei herauskommt.

Aber selbst, wenn kein weiterer Fall hinzukommt, ist die Affäre Relotius auch eine Systemfrage. Denn zwei Fragen hat der „Spiegel“ eben nicht zufriedenstellend aufgearbeitet: Wieso haben die Kontrollmechanismen nicht funktioniert? Und wieso findet ein Topautor in Minnesota keine wahren, erzählenswerten Geschichten?

Gute Journalisten gestehen sich selbst ein, wenn sie irren.
Journalisten, zumindest gute, arbeiten wie Wissenschaftler: Sie brauchen zwar eine Ausgangsthese, aber sie bleiben offen und sehen gegebenenfalls ein, dass sich im Laufe der Recherche die These als falsch herausgestellt hat. Gute, mutige und ehrliche Journalisten haben dann die Größe, auch diese Ergebnisse zu veröffentlichen.

Auf keinen Fall darf ein Journalist die Recherche als den Gegner einer guten Geschichte sehen. Er muss, soweit das möglich ist, seine Meinung aus der Berichterstattung halten. Und er darf nicht seine Meinung zur „Haltung“ stilisieren, um die beiden Regeln zu umgehen. Tut er es doch, nutzt er letztlich nur einen Doppelstandard.


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