Eine fast vergessene ostpreußisch-jüdische Dichterin dem Vergessen entreißen  

März 3, 2017 – 5 Adar 5777
Gertrud Marx – die „Anti-Miegel“

Von Victor Schapiro

Die jüdische Eschatologie (die Lehre vom Weltuntergang) ist sehr optimistisch – die Juden glauben an die Auferstehung Gestorbener am Ende der Zeiten. Alle sollen vom Staube auferstehen, und je näher ihre Leichen am wiederaufgebauten Jerusalemer Tempel ruhen, desto schnelles wird dies geschehen. Obwohl manch religiöse Dogmen uns absurd erscheinen, so werden sie an andere Stelle immer wieder zur Beschreibung ganz realer Prozesse gebraucht. Etwa das „Wiederbeleben des Autors aus dem Archiv oder dem bibliothekarischen Staub“. Das kommt dem von den heiligen jüdischen Schriften vorausgesagten Wiederbeleben der Toten nahe.

Im Zentralarchiv der Geschichte des jüdischen Volkes in Jerusalem werden die Dokumente der Königsberger jüdischen Gemeinde aufbewahrt. Ich komme immer gerne dorthin und grabe in den Papier-Mappen, in denen die Bilder der Ereignisse und der Menschen von damals zum Leben erwachen. Meine Aufmerksamkeit erregten die Gedichte auf der ersten Seiten fast jeder Nummer des „Königsberger jüdisches Gemeindeblatt“, unterschrieben mit „Gertrud Marx“.

Es gibt dort in Jerusalem, in der Nationalen Bibliothek Israels fast alle Ausgaben dieser Zeitung, und Gertrud Marx ist auf ihren ersten Titelseiten mehrmals präsent. Wer ist sie? Gewohnheitsmäßig befragte ich Google. Doch selbst dort war es gar nicht so leicht Auskünfte über die vergessene Königsberger Dichterin und ihre Texte zu finden. Dafür ist ihrer Ehegatte – ein Industrieller sofort gefunden. Doch warum waren die zahlreichen Publikationen seiner Ehefrau so schwer zu finden?

Von den Poesie-Kollegen mit guten Deutschkenntnisse habe ich widersprüchlichen Einschätzungen bekommen: einer hielt ihre Gedichte für banal, andere für absolut professionell und entsprechend den hohen Standards der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Inzwischen habe ich mich weiter in die Gedichte der vergessen Königsberger Dichterin hineingeforscht. Sie unterschieden sich durch den besonderen Wohlklang und die Geschliffenheit der rhythmischen Struktur, die sogar für das russische Ohr, das das Deutsche für einen Missklang hält, hörbar war.

Der Inhalt der Gedichte war für mich persönlich nah und interessant. Es gab bei mir außerdem noch ein persönliches Motiv: ich ärgerte mich immer über die Begeisterung der Kaliningrader kulturellen Öffentlichkeit und sogar einiger jüdischer Kollegen für die Figur Agnes Miegel (1879-1964) – eine berühmte Dichterin aus Königsberg (Heimatdichterin), außerdem aber bekannt als Anhängerin des nationalsozialistischen Regimes. Und ich habe nun die „Аnti-Miegel“ in der Person Gertrud Marx gefunden! Ich habe gesehen, dass ihre gereimte jüdische religiöse Rhetorik, wenigen außer mir überhaupt bekannt ist, vor allem nicht in dem heute russischsprachigen Kaliningrad. Ich fing ein wenig an, die Gedichte Gertrud Marx zu übersetzen, und versuchte auf Russisch die deutschsprachige lyrische Persönlichkeit zu erneuern, die in dem Jerusalemer „Grabhügel der Bücher“ beerdigt ist.

Gertrud (Golda) Simon ist 1851 in Düsseldorf in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie geboren worden. Von den Eltern, die ihr sowohl einen deutschen als auch einen jüdischen Namen gegeben haben, hat sie die heiße Anhänglichkeit an die jüdischen religiösen und deutschen kulturellen Werten behalten. Es war das deutsche Judentum, bestrebt aus der engen Welt des Ghettos in die große Welt Goethes hinüberzukommen und vollberechtigte Bewohner der europäischen kulturellen Welt zu werden, und dabei Juden entsprechend der Religion der Vorfahren zu bleiben. 1871, mit 20 Jahren heiratet das Mädchen Simon den energischen George Schimschon Marx (1843-1927), der acht Jahre älter war als sie. Gertrud, jetzt Frau Marx, fährt zu ihrem Mann nach Köln, dann ziehen sie zusammen nach Elberfeld (heute Wuppertal), um 1886 schließlich ins weit entfernte ostpreußische Königsberg zu ziehen.

Hier wird George Marx ein Mitbesitzer des Bankhauses „Witwe Simon und Söhne“. Zu dieser Zeit haben Gertrud und George schon acht Kinder. Insgesamt hatte das Ehepaar zwölf Kinder, von denen ein Junge noch vor seinem ersten Geburtstag gestorben ist, und die erste Tochter, Ketti, im Alter von nur zwanzig Jahren gestorben ist.

Von Gertruds Mann, dem Bankier George Marx, muss man hier auch noch einmal gesondert erzählen. Einer der größten Unternehmer Königsbergs, war außerdem Direktor der lokalen Abteilung der Deutschen Bank. Nach Aussagen von Zeitgenossen war George Marx ein tiefreligiöser Jude: täglich widmete er dem Thora-Studium Zeit und achtete den Schabbat. Das Haus der Familie Marx befand sich an der Weidendammstraße, nur einige Minuten Fußweg entfernt von einigen Königsberger Synagogen. Aber der religiöse Bankier besuchte nur eine: Mit Gleichgesinnten hat er die orthodoxe Gemeinde „Adat Israel“ gegründet, die von der liberalen Synagogengemeinde Königsbergs abgesondert war. Dabei war Bankier Marx ein progressiver und tätiger Mensch – spendete viel Geld für wohltätige Institutionen in der Gemeinde, half den Patienten und den Opfern der Gemetzel in Russland.

Das „Königsberger jüdisches Gemeindeblatt“ beschrieb das Paar im Dezember 1928 als zwei Persönlichkeiten ungewöhnlichen Formats: er sei ein Vorbild, und sie beherrschte das Wort vorbildlich. So strahlten sie beide die heiße Liebe und echtes Judentum aus.

Gertrud Marx starb am 14. Oktober 1916 an einer Lebensmittelvergiftung. Ihr Tod war eine große Erschütterung für ihre Vertraute. Der Bankier Marx, der zur Wohltätigkeit neigte, wollte das Andenken seiner Ehefrau mit gottgefälligen Taten – der Sorge um die jüdischen Kinder – verewigen. Da in Königsberg schon ein Waisenhaus existierte, hat er in der Nachbargemeinde ein Heim eröffnet, das den Namen von Golda Marx tragen sollte. Dieses Obdach hat bis zum Anfang des Zweiten Weltkriegs existiert.

Die zahlreichen Nachkommen von Marx leben jetzt weltweit verstreut, einige von ihnen wurden sehr erfolgreiche Menschen, worüber man sich bei Wikipedia überzeugen kann: es seien Alexander Marx, der amerikanische Historiker und Bibliograf, und Moses Marx, der Berliner Herausgeber und Typograph, erwähnt.

Was macht das poetische Erbe Gertrud Marx‘ aus? Es gibt einige poetische Sammlungen. Außerdem in Königsberg gedruckte kleine Geschenksausgaben zum Jubiläum des Mannes und der brillantenen Hochzeit der Eltern, zu Lebzeiten der Dichterin wurde 1907 in Berlin das Buch „Gedichte“ herausgegeben. 1919 erscheint in Berlin noch ein, schon eine postume umfangreiche Sammlung der Dichterin namens „Jüdische Gedichte“.

Das Buch erschien im „Jüdischen Verlag“, der vom Philosophen Martin Buber für die Ausgabe jüdischen Literatur auf Deutsch gegründet worden war. Dieser Verlag existierte von 1902 bis 1937 und hat eine wichtige Rolle in jenem Prozess gespielt, den Buber „die jüdische Renaissance“ nannte. Einer der Verfasser der Sammlung war Berta Badt-Strauss (1885-1970), die bekannte deutsch-jüdische Schriftstellerin und die Journalistin, die sich für das Thema „Beitrags der Frauen in die jüdische Geschichte und Literatur“ begeisterte. Es ist nicht bekannt, wie die hauptstädtische poetische Bohème die ehrbare Königsberger Hausfrau Gertrud Marx wahrnahmen, die sich nicht Heldinnen „der jüdischen Renaissance“, sondern der Sorge um den tätigen Mann und die zahlreichen Kinder widmet.

Aber auf jedem Fall hat Berta Badt in Gertrud Marx eine echte „jüdische Jüdin“ erkannt, eine Autorin authentischer moderner jüdischer Poesie in deutsche Sprache. Im Vorwort zur Sammlung vergleicht sie die Autorin mit Glükel aus Hameln (1645-1724) – der berühmten Begründerin der weiblichen Prosa auf Jiddisch, im 17. Und 18. Jahrhundert lebend. Die autobiographischen Zettel von Glükel haben 200 Jahre in den Familienarchiven gelegen, bis sie 1896 vom deutschen Schriftsteller und Historiker David Kaufmann veröffentlicht wurden. Für Berta Badt war es sehr wichtig, die Kombination der Religiosität der Königsberger Dichterin, ihrer heißen Anhänglichkeit an die Traditionen der Vorfahren mit der Offenheit der Epoche des Jugendstils und der Toleranz gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen zu betonen.

Es ist im Vorwort erkennbar, wie schwer und nah zu Herzen Gertrud Marx die Ereignisse des Ersten Weltkrieges gingen – zeitweilig hatten sogar russische Truppen einen Teil von Ostpreußen besetzt.
Gertrud Marx blieb fast unbemerkt von der Königsberger literarischen Öffentlichkeit, aber sie war im Bilde über das literarische Leben der Region. Davon zeugt ihr Schreiben zu Friede Jung (1865-1929), der Dichterin aus Insterburg (heutzutage Tschernjachowsk), deren Schicksal das völlige Gegenteil von Gertruds Leben war – Friede war sehr unglücklich im Privatleben, hat den Mann und das Kind verloren, aber die Poesie hat ihr breite Anerkennung und Geld gebracht.

Man kann die Gründe für das Vergessenwerden der Königsberger jüdischen Dichterin verstehen. Erstens lebte sie im Unterschied zu Agnes Miegel außerhalb der deutschen literarischen Gesellschaft. Zweitens lagen ihr Werk außerhalb der Mode des anfangenden 20. Jahrhunderts. Drittens kamen nach dem Tod der Dichterin bald die Zeiten, wo alles Jüdische aus der deutschen Kultur entfernt wurde. Viertens wurde später, als in Deutschland wieder der jüdischen Dichter gedacht wurde, die Aufmerksamkeit mehr auf tragische Figuren wie die in Auschwitz ermordete Gertrud Kolmar (1894-1943) gelenkt.

Wird nun Gertrud Marx mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden?
Für Kaliningrad, für die lokale jüdische Gesellschaft ist die Persönlichkeit von Gertrud Marx auf jeden Fall interessant, sie ist eine helle, positive Gestalt der eigenen Geschichte, der Geschichte der Stadt und der Gemeinde.

Eine Anekdote noch zum Schluss: Gertrud Marx hat jenen Tag im Jahre 1919 leider nicht mehr erlebt als ihre Tochter Esther den jungen Literaten Schmil-Joseph Tschatschkess geheiratet hat. Der Ehemann von Gertrud, Georg Schimschon Marx, widersetzte sich dieser Ehe, denn ein Jude aus dem ukrainischen Schtetl war seiner Meinung nach nicht respektabel genug für seine Tochter. Was der alte Bankier wohl gesagt hätte, wenn er die israelische 50-Schekel-Banknote mit dem Porträt des Schwiegersohnes noch gesehen hätte? : Das Porträt des größten israelischen Schriftstellers, des Nobelpreisträgers der Literatur, Schmuel Josef Agnon!

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke