Die Berliner Professorin Monika Schwarz-Friesel über Hass-Mails und gebildeten Antisemitismus als Herausforderung an die deutsche Gesellschaft 

Juli 3, 2014 – 5 Tammuz 5774
Gefährliche Ressentiments der Mitte

Frau Professor Schwarz-Friesel, in Ihren
jüngsten beiden Publikationen – «Aktueller
Antisemismus – eine Phänomen der Mitte»
und «Die Sprache der judenfeindschaft im 21.
Jahrhundert» kommen Sie zu schockierenden
Ergebnissen. Es sind Ergebnisse, die sich aus
der Analyse von Tausenden Emails an den
Zentralrat der Juden in Deutschland und an
die Israelische Botschaft in Berlin ableiten.
Unter anderem kommen Sie zu dem Schluss,
dass sich sämtliche antijüdische Feindbilder,
wie sie aus dem Mittelalter überliefert sind,
auch in den deutschen Köpfen gehalten haben.
Was sind für Sie dabei aktuell die problematischsten
Bilder und Stereotypen?

In der Tat finden sich trotz aller Aufklärungsarbeit
und historischer Aufarbeitung
nach der Schoa nach wie vor geradezu ungebrochen
auch im modernen Diskurs alle
seit dem Mittelalter bekannten Stereotype
wie «Juden als Wucherer, als Lügner, als
Verweigerer des wahren Glaubens, als Verräter,
rachsüchtige Intriganten» usw. All
diese spezifischen Stereotype basieren auf
der Grundkonzeptualisierung «Juden als
Die Anderen», als «die ultimativ Bösen».
Die jüdische Existenz wird als Gegenentwurf
zur christlichen, zur abendländischen
Existenz gesehen. Daran hat sich auch im
aktuellen Antisemitismus nichts geändert:
Wurden im Mittelalter Juden als Teufel und
Anti-Christen klassifiziert und dies stets mit
der Unterstellung «Juden allein sind schuld
daran, wenn man sie hasst», finden wir diese
Vorstellungen in zwei modernen Varianten:
«Juden sind schuld am Antisemitismus, weil
sie den Holocaust ausbeuten und die Erinnerung
nicht ruhen lassen» und Juden sind
schuld am Antisemitismus, weil sie sich solidarisch
mit Israel zeigen.» Oft werden auch
deutsche Juden synonym mit Israelis gesetzt
(also das alte Stereotyp «Juden sind Fremde
» kodiert). Israel wird als «der Schurke
unter den Staaten», als «das größte Übel
der in der Welt» charakterisiert. Moderne
Antisemiten argumentieren dabei stets, dass
der aktuelle Antisemitismus nur durch die
angeblichen «Verbrechen Israels im Nahost-
Konflikt» wachgehalten werde. So werden
die klassischen judenfeindlichen Ressentiments
auf den jüdischen Staat projiziert: «Israel
stört den Weltfrieden» basiert auf dem
uralten Muster «Juden sind Störenfriede».
Natürlich ist jedem klar, dass der Antisemitismus
auch bei einer einvernehmlichen Lösung
in Nahost nicht aufhören würde.

Ein weiteres Ergebnis der Studie war, dass
viele der Email-Verfasser mit hoch problematischen
antisemitischen Vorurteilen aus der
deutschen Mittelschicht kommen, sich aber
unter politischem Blickwinkel ebenfalls eher
in der gesellschaftlichen Mitte verorten. Können
Sie das auch etwas quantifizieren?

Von allen untersuchten Schreiben (es
waren über 14.000) kommen mehr als 60
Prozent aus der Mitte der Gesellschaft; z.T.
sind es hochgebildete Menschen mit akademischen
Abschlüssen und entsprechenden
Positionen. Dies ist aber keineswegs etwas
Neues, wenn man einen Blick auf die lange
Geschichte der Judenfeindschaft wirft. Was
oft vergessen oder missachtet wird: Judenfeindschaft
ist nie nur ein gesellschaftliches
Randphänomen gewesen. Im Gegenteil: die
letzten 2.000 Jahre zeigen doch sehr deutlich,
dass Judenfeindschaft immer zuerst in
den Schreibstuben der Gelehrten, auf den
Kanzeln, in den Pamphleten, Romanen etc.
niedergelegt wurde, bevor sie die Straße
erreichte. Wir finden judenfeindliches Gedankengut
in den Schriften von Augustinus,
Luther, Hegel, Fontane; und im 19. sowie
frühen 20. Jahrhundert offiziell in den Parteiprogrammen
der großen Parteien Deutschlands.
Es ist ein gern gehegter Irrglaube, Judenfeindschaft
und Antisemitismus seien das
Phänomen einiger weniger Rechtsradikaler
oder Fundamentalisten. Antijudaismus war
immer gesellschaftsfähig, war jahrhundertelang
völlig normal und habituell; das ist ja das
Problem bei der Bekämpfung des Antisemitismus
heute. Was sich nun aber in den letzten
15 Jahren (nach einer Nachkriegsphase von
ca. 40 Jahren, in der Verbal-Antisemitismen
öffentlich tabuisiert waren) verändert hat,
ist die Bereitschaft, antisemitische Sprachgebrauchsmuster
wieder offen zu artikulieren
bzw. zu akzeptieren.

In besonderer Weise zeigten sich bei den
von Ihnen und Ihrem Team untersuchten
Emails Hass und Vorurteile gegenüber Israel.
Sehen Sie einen allgemeinen Trend in
Deutschland dahingehend, dass Antisemitismus
gegenüber jüdischen Nachbarn und Kollegen
im allgemeinen unterdrückt wird, sich
aber umso heftiger in Angriffen gegen Israel
und die israelische Gesellschaft auslebt?

Auf jeden Fall. Gerade die gebildeten Antisemiten
leugnen ja vehement, antisemitisch
eingestellt zu sein. Das passt nicht zu ihrem
nach Außen getragenen Selbstkonzept. Sie
sehen sich als «Humanisten», als «Anti-
Rassisten», als «besorgte und verantwortlich
fühlende Bürger». Sie dämonisieren
aber Israel und artikulieren dabei zahlreiche
judeophobe Klischees.
Diesen ist zum Teil bewusst, dass ihre Äußerungen
brisant oder moralisch zweifelhaft
sind und als solche wahrgenommen werden
könnten. Doch der Wunsch, das unbedingte
Bedürfnis, sich gegenüber dem «zionistischen
Störenfried», dem «Verbrecher- und
Apartheidsstaat» artikulieren zu wollen, ist
stärker als die Bedenken, die ihnen bei dieser
Artikulation kommen. Ein wirklich verantwortungsbewusster
Mensch würde z. B.
niemals dämonisierende NS-Vergleiche benutzen.
Somit zeigt sich auch bei gebildeten
Antisemiten aus der Mitte der Gesellschaft
die für das gesamte Phänomen des Antisemitismus
charakteristische obsessive Komponente.
Dieser «Antisemitismus ohne Antisemiten
» gibt sich anti-rassistisch und ehrbar,
bedient sich aber in seiner israelbezogenen
Umwegkommunikation judenfeindlicher
Stereotype.

Das Interview führte
Katharina SCHMIDT

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