Februar 8, 2016 – 29 Shevat 5776
Eine permanente Gratwanderung

Von Theodor Joseph

Kurt Schumacher, erster SPD-Nachkriegsvorsitzender, und andere SPD-Repräsentanten reklamierten in ihren Reden immer wieder einen Alleinvertretungsanspruch auf eine glaubwürdige und konstante Widerstandshaltung zum Nationalsozialismus. Doch mussten sich aus dem Exil zurückgekehrte Sozialdemokraten oftmals die Frage gefallen lassen, warum sie Deutschland während der NS-Zeit verlassen hätten. Bis in die 1960er Jahre mussten sich die seinerzeit Ausgebürgerten mitunter unpatriotischen Verhaltens zeihen lassen. Dies galt namentlich für Willy Brandt. „Wo war Brandt 1948? – In Sicherheit!“ So hieß es während des Wahlkampfs zum Deutschen Bundestag 1965. Das war eine spektakuläre Diffamierung gegen den SPD-Kanzlerkandidaten.

In die Reihe dieser beschämenden polemischen Attacken gehört auch die zynische Frage Franz-Josef Strauß’ an die Adresse Brandts, was dieser denn zwölf Jahre lang „draußen gemacht“ habe. Eine solch böswillige Polemik aus Reihen christlich-konservativer Politiker war nicht selten. Dennoch wäre die Gegenfrage an die genannten Moralpatrioten, was sie selbst denn in den zwölf NS-Jahren „drinnen“ gemacht hatten, eine viel spannendere Frage gewesen.

Als einzige Partei hatte die SPD dem Nationalsozialismus konzessionslos widerstanden, sah sich als Vertreter des „anderen“ Deutschlands, auch wenn sich eine SPD-Anhängerschaft als anpassungs-, wenn nicht begeisterungsfähig für die NS-Machthaber erwiesen hatte. Um politische Verantwortung zu erreichen, zugleich aber den Anspruch nach Bestrafung der NS-Täter und Entschädigung der Opfer gerecht zu werden, begab sich die SPD seit 1945 auf eine permanente Gratwanderung zwischen Versöhnungsbedürfnissen und Aufarbeitungsbemühungen. Ihr Umgang mit der NS-Vergangenheit war von Widersprüchen – die nicht zuletzt bei Kurt Schumacher festzustellen waren – Ambivalenzen und Interessenkonflikten bestimmt. So lautet die Ausgangsthese Kristina Meyers in ihrer vergangenheitspolitischen Analyse über die SPD nach 1945.

Die SPD, die, anders als die CDU, hinsichtlich der Wiedergutmachung eine Vorreiterrolle spielte und die Regierung in dieser Frage vor sich hertrieb, hat in dem Gesetzgebungsverfahren für eine umfassende Regelung nie gewankt oder gezögert. Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer wollte ein Wiedergutmachungsgesetz und er wollte ein bilaterales Abkommen mit dem Staat Israel, das er gegen seine eigene verstockte Partei nur mit Hilfe der SPD hat durchsetzen können.

Während Adenauer nichts unternahm, um die verjagten deutschen Juden aus Emigration und Exil zurückzubitten und damit einen moralischen Geburtsfehler der Bundesrepublik beging, war die SPD die einzige Partei, die mit einem Appell im Bundestag die in der NS-Zeit aus Deutschland Geflohenen zur Rückkehr aufforderte. Doch die Rückkehrer hatten Grund sich über mangelnde Reflexionsbereitschaft mancher Sozialdemokraten zu beklagen. Eine solche Erfahrung musste die spätere Historiographin der deutschen Sozialdemokratie, Susanne Miller, machen, als sie, im Frühjahr 1946 gerade aus ihrem Exil in London nach Köln zurückgekehrt, eine „merkwürdige Doppelbödigkeit“ unter den Genossen ausmachte. Selbst „gute“ Sozialdemokraten haderten nach ihrem Eindruck noch immer mit dem verlorenen Krieg. Dass der ersehnte Untergang des NS-Regimes nicht mit einem Sieg Deutschlands vereinbar sein konnte, haben sich auch Sozialdemokraten nicht eingestehen wollen.

Auch mit ihrer Kritik an den personellen Kontinuitäten in Politik, Verwaltung, Wissenschaft,Wirtschaft und nicht zuletzt in Justiz grenzte sich die SPD deutlich von der Politik der Bundesregierung ab.
Kanzler Adenauer hatte in seiner ersten Regierungserklärung über das das Schicksal der verfolgten und ermordeten Juden kein einziges Wort verloren. Viereinhalb Jahre nach der Befreiung von Auschwitz redete Adenauer bereits von einem Schlussstrich. (...)

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