Von Karin Hepperle
„Mit der Zustimmung des heiligen Gottes und mit der Zustimmung dieser ganzen Kehlila Kadoscha. (…) Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er in der Nacht. Verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht.“
Am 27. Juli 1656 verstieß der Amsterdamer Synagogenvorstand offiziell Baruch de Spinoza. Der junge Mann war damit künftig und endgültig des Schutzes und der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde beraubt. Sein „Verbrechen“: Er hatte es gewagt, über den geistigen Horizont der jüdisch-orthodoxen religiösen Schriften hinauszublicken und zu denken. Und die geistige Kost war für ihn zu wesentlich gewesen, als dass er diesen „Irrlehren“ hätte abschwören wollen. Stattdessen zog er es vor, im freien Denken, weitgehend isoliert und ablehnend beäugt von seinem christlichen und jüdischen Umfeld, seine Heimat zu finden.
Spinoza war damals 24 Jahre alt, Waise und unverheiratet. Wie viele Sepharden waren seine Vorfahren im Zuge der spanischen Inquisition ins liberalere Amsterdam übergesiedelt.
In den folgenden 20 Jahren zog er sich nach Rijnsberg bei Leiden und Den Haag zurück und entwickelte seine Philosophie, die noch lange nach seinem Tod 1677 auf dem Kodex der verbotenen Bücher innerhalb der katholischen und protestantischen Kirchen stand.
Erst zur Goethe-Zeit wurden seine Schriften unzensiert rezipiert. Was aber davor ihren Inhalt für Gebildete umso reizvoller gemacht hatte. Denn Spinoza entfernte sich in seiner Philosophie von dem althergebrachten Gottesbild und steht zeitlich und geistesgeschichtlich gesehen zwischen dem Determinismus des 16./17. Jahrhundert und der Aufklärung.
Geistige Emanzipation
Philosophie bedeutete schon immer, sich vom vorherrschenden dogmatischen religiösen Denken zu emanzipieren. Die katholische Kirche war durch die Reformation in eine tiefe Krise geraten und auch die von ihr energisch betriebene Gegenreformation konnte die Erschütterungen im späten Mittelalter, u.a. hervorgerufen durch den Zusammenbruch des byzantinischen Reiches, in Folge dessen viele weitere antike Schriften nach Europa gelangten und damit die Renaissance und den Humanismus bis nach Nordeuropa beförderten, nicht aufhalten.
Der Franzose Descartes (1596-1650) hatte radikal das Denken als menschliche Heimat, als eigentliche Vergewisserung seiner selbst, formuliert: „Cogito ergo sum“. Wahres Wissen entstammt nicht der göttlichen Offenbarung, sondern der menschlichen Vernunft. Sicherheit wird nur über den Zweifel gewonnen, denn wir erliegen öfter, als wir meinen, unseren Sinnestäuschungen. Sein Rationalismus hatte zur Folge, das Sein vom Denken abzuspalten. Was bis heute verhängnisvolle Folgen hat! Indem er davon ausging, dass Körper und Geist getrennt sind, entstand unter dem Begriff Dualismus eine Minderbewertung der körperlich vitalen Ebene und eine Überhöhung der geistigen. Nach Descartes und seinen Nachfolgern sind Tiere Automaten und der menschliche Körper funktioniert wie ein entseelter Mechanismus.
Im Gegensatz zu späteren Philosophen hat bei Descartes Gott jedoch noch seinen wesentlichen Platz: In Anlehnung an Anselm von Canterbury verwies er darauf, dass die Idee eines vollkommenen Gottes in uns unvollkommenen Menschen nicht grundlos existieren kann. Das heißt Gott selbst ist die Ursache dafür, dass wir ihn als vollkommen erkennen können und unsere guten Ideen nicht Ausgeburt eines Dämons sind.
Sein Nachfolger Geulincx entwickelte daraus die deterministische Ansicht, dass Körper und Geist wie zwei synchron laufende getrennte Parallelwelten seien, die Gott am Anfang aller Zeiten gleichzeitig aufgezogen habe.
Die großartigen Entdeckungen auf dem Gebiet von Physik, Astronomie, Mathematik und Medizin von Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton und Harvey etc. beeinflussten in Form des Mechanismus auch die Philosophie von Thomas Hobbes (1588-1679). Das Universum, die Gesellschaft und der menschliche Körper befinden sich laufend in präziser mechanischer Bewegung, hängen voneinander ab und beeinflussen sich gegenseitig.
Zusätzlich zu Descartes und Hobbes war Spinoza früh mit den klassisch griechischen und lateinischen Philosophen, mit den Schriften von Giordano Bruno, Tommaso Campanella und dem abtrünnig jüdischen Arzt und Philosophen Joseph Salomon Delmedigo in Berührung gekommen.
Spinoza erstes und einziges unter eigenem Namen zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk aus dem Jahre 1663 ist seine Interpretation von Descartes.
Denn wie Descartes war er davon überzeugt, dass wir durch Anwendung der geometrischen Gesetze und Methoden wissen können, wie die Welt wirklich ist.
Er ging dabei noch einen Schritt weiter, indem er in Anlehnung an Euklid eine Geometrie der Philosophie begründete. Ziel seines Systems war es, mit Axiomen, Definitionen, Lehrsätzen und Beweisen mathematisch geometrisch zu begründen, wie man ein ethisch tadelloses Leben führen könne.
1670 erschien anonym sein theologisch-politisches Traktat, das allgemein als Vorläufer der historisch-kritischen Bibelexegese angesehen wird.
Spinoza Hauptwerk, die „Ethica“, entstand über einen langen Zeitraum hinweg und wurde erst nach seinem Tode publiziert – und gleich nach Drucklegung von den Niederlanden verboten, da sie „sehr viele unheilige, gotteslästerliche und atheistische Behauptungen“ enthielt.
Die „Ethica“ ist Spinozas Antwort auf die wesentlichen Fragen der Philosophie: die Beziehung zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, Determinismus und Freiheit.
Gott ist in allem, alles ist ein Teil Gottes
In gewisser Weise nahm er den Pantheismus der antiken Philosophen wieder auf bzw. den von Goethe vorweg. Diese Weltanschauung, sich zusammensetzend aus den altgriechischen Wörtern pan=alles und theos=Gott, sieht in allem Existierenden, in der Natur, im Kosmos und in allen Lebewesen das Göttliche wirken. Es ist lebendig, ewig und überpersönlich, damit ähnlich dem Tao der Chinesen. Spinoza nennt diese entpersönlichte essenzielle Energie die „Eine Substanz“, identisch mit Kosmos und Welt. Den Dualismus zwischen Körper und Geist löste er dahingehend auf, indem er Materie und Geist, Ausdehnung und Ideen, als Attribute, d.h. Eigenschaften oder Manifestationen, jener einzigen Substanz definierte.
Es gibt also auch laut Spinoza das Göttliche, aber nicht mehr wie bei den abrahamitischen Religionen in Form eines patriarchalisch vermenschlichten, meist humorlosen Über-Ichs, das die Menschen wie Kinder behandelt und sie grausam abstraft, wenn sie etwas angeblich Böses tun.
Ein Widerspruch zwischen Gedanke und Wirklichkeit als Eigenschaften der „Einen Substanz“ ergibt sich nicht und daher steht Spinozas Lehre nicht für Dualismus, sondern ist geistesgeschichtlich dem Monismus zuzurechnen.
Spinoza überträgt die Ursache-Wirkungskette der körperlichen Ebene konsequent auf die geistige und entwirft in gewisser Weise ein auch nach heutigem Verständnis spirituelles Weltbild: In dem der Mensch Bedingungen unterworfen, aber potenziell frei ist.
Spinoza nennt den Drang nach Selbsterhaltung gegen feindliche Kräfte Conatus. Dieser Drang impliziert auch unsere Leidenschaften. Reagieren wir unreflektiert auf unsere Leidenschaften, sind wir ihnen passiv ausgeliefert. Das reflektierende Verständnis und Erkennen hingegen von Ursache und Wirkung der Leidenschaften lässt uns aktiv und nicht zum Opfer unserer Emotionen und Umstände werden. Diese jedem Menschen gegebene Vernunft ist für Spinoza wichtiges Indiz für die menschliche Freiheit und indem der Mensch von seiner Vernunft vollständigen Gebraucht macht, d.h. sich nicht zum Opfer von Emotionen und Umständen machen lässt, wird er glücklich, d.h. frei. Indem er sich selbst versteht, versteht er auch die Welt und er ist dann in der Lage, diese Wirklichkeit aktiv, d.h. umfassend geistig verstehend, zu lieben.
Linsenschleifer als Brotberuf
Spinoza verdiente seinen Lebensunterhalt als Linsenschleifer, ein Handwerk, das er schon als Kind von seinem Vater gelernt hatte. Einen Ruf an die Heidelberger Universität lehnte er ab, da das bedeutet hätte, gewisse, für ihn unliebsame Einschränkungen zu akzeptieren. Er war damit einer jener sehr Wenigen, die konsequent nach ihren Überzeugungen lebten, ein anspruchsloses Leben führten, dabei liebenswürdig waren, Freundschaften und Briefwechsel u.a. mit dem Universalgelehrten Leibniz pflegten und in seinem authentischen Dasein bei vielen Aggressionen weckte. Sogar ein Mordanschlag wurde auf ihn verübt. Er starb mit 44 Jahren an Tuberkulose, einem berufsbedingten Lungenleiden.
Die bewegte Wirkungsgeschichte von Spinozas Schriften stand im Gegensatz zu seinem einfachen Leben. Den Theologen ging die Selbstverantwortung des Menschen zu weit, den Aufklärern war die Autonomie des Menschen Gott gegenüber zu gering. Mich erinnert die Philosophie Spinozas an das Kleist‘sche Weltverständnis, in dem der Mensch gleichermaßen den Gesetzmäßigkeiten unterworfen, aber durch Erkenntnis seiner selbst in einer gewissen Situation, die mutiges Handeln nach sich zieht, potenziell frei werden kann.
Bewusst habe ich die Verbannung Spinozas aus der jüdischen Gemeinde an den Anfang gestellt. Weil bis heute grausam duales und ignorantes Verhalten uns Menschen zu eigen ist. Selbst Spinoza wäre es nach heutigem Stand der Technik unmöglich, magische Linsen herzustellen, die Berührungsängste vor neuem geistigen Gedankengut abbauen und ausreichend Reflexionsvermögen produzieren. Er hätte höchstwahrscheinlich nicht einmal selbst den Wunsch verspürt, diese magischen Linsen herzustellen. Denn genau diese, wenn auch deprimierenden Ausgangsbedingungen wären für ihn die Notwendigkeiten gewesen, denen sich der Mensch zu stellen hat.
Denjenigen, die von Spinozas Philosophie überzeugt sind, steht es frei, sich den nach wie vor gültigen geistigen Kochrezepten hinzuwenden: uns selbst und unsere Umgebung anzuschauen, sie und uns selbst vom Hintergrund her zu verstehen und zu transformieren!
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