Hausvogteiplatz, Berlin-Mitte: Wo heute das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) seinen Sitz hat, lag in den 1930er Jahren das Epizentrum der deutschen Modebranche. Viele auch international bekannte jüdische Konfektionäre hatten dort ihre Geschäfte, Ateliers und Schneidereien. Die Machtergreifung der Nazis läutete das Ende der Modeunternehmen am Hausvogteiplatz ein. Wissenschaftler der Humboldt Universität (HU) haben nun im Auftrag des Ministeriums das Schicksal der Konfektionäre erforscht. Das Ergebnis ist ein (weiteres) erschütterndes Beispiel für die Repressionen und Verfolgung durch die Nazis.
59 jüdische Modebetriebe auf dem heutigen BMJV-Gelände
Dr. Christoph Kreutzmüller, Eva-Lotte Reimer und Prof. Dr. Michael Wildt vom Institut für Geschichtswissenschaften der HU, die die Geschichte des Areals und der dort ansässigen Unternehmer untersuchten, stellten ihre Forschungsarbeit am 9. November im BMJV vor. Unter dem Titel „Konfektion und Repression“ hat das Ministerium auch eine Broschüre herausgebracht, die die wichtigsten Ergebnisse zusammenfasst.
Den Wissenschaftlern zufolge waren 1933 auf dem heutigen Areal des BMJV in der Mohrenstraße 36 bis 38, der Kronenstraße 35 bis 41 und der Jerusalemer Straße 24 bis 28 nachweislich 59 (!) jüdische Betriebe aus der Textil- und Modebranche registriert. Die gesamte Gegend um den Hausvogteiplatz war als jüdisches Viertel bekannt, auch die Modeindustrie in Berlin insgesamt galt als jüdisch.
Boykott, Schikane durch IHK und Adefa
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurde es für die Konfektionäre vom Hausvogteiplatz immer schwieriger, ihre Geschäfte zu führen. Die Unternehmer hatten zwar schon zuvor antisemitische Anfeindungen und Angriffe erfahren. Dazu gesellten sich nun allerdings staatliche Repressionsmaßnahmen. So begann am 1. April 1933 der Boykott gegen jüdische Geschäfte und Unternehmen.
Zudem übte die „Adefa“ Druck auf die Unternehmer aus. Die „Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie e.V.“ wurde im Mai 1933 gegründet war und im ganzen Reich aktiv. Sein Ziel war es unter anderem, die nicht-jüdischen Unternehmen innerhalb der Modebranche zu organisieren und dazu zu bringen, die Zusammenarbeit mit als jüdisch erachteten Unternehmen aufzukündigen. Auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) beteiligte sich an den Repressionen. Gemeinsam mit dem Amtsgericht überprüfte sie die Betriebe und begann teilweise, sie zu schikanieren.
Unternehmer halten Repressionen Stand
Trotz der Repressionen ging das Leben am Hausvogteiplatz zunächst einmal weiter. Viele nicht-jüdische Unternehmer führten ihre Geschäftsbeziehungen mit jüdischen Unternehmern fort – vermutlich unter anderem aus wirtschaftlichen Gründen.
Zudem wurde der Antisemitismus in Berlin nicht so offen ausgelebt wie auf dem Land: In der Metropole konnten die jüdischen Gewerbebetriebe der Repression deutlich länger standhalten als in kleineren Städten und der Provinz, wo ab 1937/38 ja häufig auch kaum noch Juden wohnten, wie Eva-Lotte Reimer erklärt. Die jüdischen Unternehmer hätten in Zusammenarbeit mit verschiedenen jüdischen Institutionen erfolgreiche Strategien der ökonomischen Selbstbehauptung entwickelt.
Weltöffentlichkeit in der Hauptstadt bietet Schutz
Hinzu kommt: Durch die schiere Größe der Stadt und den Umstand, dass sowohl Vertreter der internationalen Presse und der Botschaften vor Ort waren, seien die Unternehmen zumindest bis zum Pogrom im Jahr 1938 besser geschützt gewesen als andernorts. Viele Unternehmen sowie jüdische Familien zogen auch nach 1933 aus der Provinz nach Berlin. „In der Konfektionsbranche, besonders am Hausvogteiplatz“, sagt Reimer, „kam noch hinzu, dass es sich um namhafte Firmen mit internationalem Standing handelte, die die Nationalsozialisten mit Blick auf das seinerzeit chronische Außenhandelsdefizit auch nicht sofort antasten konnten.“
Nationalsozialistische Betriebszellen: Angriffe aus der Belegschaft heraus
Ähnliches erfuhr auch Wilhelm Stern, Leiter der Firma Graumann & Stern. Das 1888 gegründete Unternehmen war auf die Herstellung und Verkauf von Damenkonfektion spezialisiert und sehr erfolgreich: Es unterhielt Niederlassungen in New York, London, Kopenhagen und Amsterdam und erwirtschaftete 1920 einen Jahresumsatz von 20 Millionen Reichsmark.
Nach dem Boykott plante Stern mit seiner Familie Berlin zu verlassen. Doch seine Mitarbeiter ließen ihn nicht: Sie bildeten im Betrieb in der Mohrenstraße 36 eine nationalsozialistische „Betriebszelle“, der Sterns Chauffeur vorstand. Er zwang seinen Vorgesetzten unter Androhung von Gewalt dazu, eine Erklärung zu verfassen, in der er sich verpflichtete, die Firma weiterzuführen. In der Nacht darauf verschaffte der Chauffeur sich zudem mit 25 SA-Männern Zutritt zur Wohnung der Sterns und zwang Stern dazu, eine weitere Erklärung zu schreiben: Er sollte die geplante Schließung der Firma rückgängig machen und mit der „Betriebszelle“ kooperieren.
Wie Christoph Kreutzmüller erklärt, ist davon auszugehen, dass Drohungen und Gewalt gegen die jüdischen Firmeninhaber häufig von ihren eigenen Mitarbeitern ausgingen – genau quantifizieren ließe sich dies aufgrund der Quellenlage allerdings nicht. (…)
Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.
Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.